Samstag, 9. März 2013

Schnitt - Wendepunkt - Alles auf neu

So, es wird Zeit. Ganz klar und keine Frage. Bevor es zu spät ist. Also ab dafür.

Sonntag, 3. Juni 2007

Die weltabgewandte Seite der Sprachförderung (2002)

Schaut man auf die aktuelle Debatte bezüglich des Standes der deutschen Sprache in der Welt, so lässt sich zweierlei feststellen. Einerseits muss man zu dem Ergebnis kommen, dass die Stellung des Deutschen in der ganzen Welt zurückgeht, und dass selbst in den Ländern Osteuropas, die nach der politischen Wende einen wahren Boom beim Erlernen der deutschen Sprache erlebten, mittlerweile die Situation wieder eine andere ist und das Deutsche auch hier von anderen Sprachen – vor allem, muss das noch erwähnt werden? dem Englischen - zurückgedrängt wird. Dieser Zustand und diese Entwicklung wurden in den letzten Jahren ausführlichst beobachtet und beschrieben (z.B. vom DAAD). Andererseits bemerkt man aber noch etwas: Die Verantwortlichen machen sich Gedanken, das Auswärtige Amt und seine kulturellen und wissenschaftlichen Repräsentanten suchen nach Wegen aus der Krise, wenn auch nicht, um die Tendenz im allgemeinen und das Englische im besonderen aufzuhalten, so doch, um zumindest den Status Quo zu sicher und zu festigen.
Anstrengungen in unterschiedlichste Richtungen werden unternommen, um die deutsche Sprache im Ausland zu erhalten und zu fördern. Dieser Aktionismus ist natürlich zu loben und nach Kräften zu unterstützen. Wenn man sich die Projekte und Aktionen aber genauer anschaut, dann stellt sich die Frage, ob wirklich alles so durchdacht ist und ob das Geld, welches dafür verwendet wird, nicht womöglich effektiver hätte eingesetzt werden können. Manchmal sind es fast banale Erkenntnisse, die dem kommen, der Zeit und Gelegenheit hat, sich in die spezifischen Umstände der konkreten sprachlichen Situation eines Landes einzufühlen.
Ich möchte drei Beispiele nennen, die in ihrer Konsequenz zu Handlungsanweisungen führen, die sich in ihrer Substanz wesentlich von dem unterscheiden, was von offizieller deutscher Seite für die Förderung der deutschen Sprache im Ausland getan wird.
Die Beispiele betreffen alle die Situation des Deutschen in Rumänien, auch und nicht zuletzt, weil dort über Jahrhunderte hinweg eine deutsche Sprachinsel existierte, die in der Fülle und Vielfalt ihrer kulturellen Verzweigungen wahrscheinlich einmalig ist. Spätestens seit den Veränderungen nach 1989 fand ein nicht zu übersehender Exodus statt, der den Großteil der Siebenbürger Sachsen, der Banater und Sathmarer Schwaben und der Berglanddeutschen nach Deutschland brachte. Dabei hat im Lande selbst eine interessante Veränderung stattgefunden. Die über die Jahrhunderte entwickelte kulturelle Infrastruktur mit ihren deutschen Ausbildungsstätten, also den deutschen Kindergärten, Grundschulen und Gymnasien wird heute stärker als je zuvor von rumänischer Seite genutzt, d.h. rumänische Familien, die zu der deutschen Kultur nicht unbedingt einen Bezug haben, schicken ihre Kinder in deutsche Kindergärten und auf deutsche Schulen, die weiterhin in Siebenbürgen und im Banat existieren. Die Studierenden, die man an den Germanistik-Lehrstühlen in Sibiu, Cluj-Napoca, Brasov oder Timisoara (ich könnte auch sagen: in Hermannstadt, Kronstadt, Klausenburg oder Temeschwar) antrifft, verfügen über hervorragende Kenntnisse der deutschen Sprache und ihre sprachliche Kompetenz lässt in der Regel nichts zu wünschen übrig. Doch leider gehen auch hier langsam die Zahlen zurück, deutsche Schulklassen werden kleiner und manche müssen ganz schließen, da immer weniger Menschen sich für die deutsche Sprache interessieren.
In Bukarest, nicht gerade bekannt für seine große Zahl an deutschsprachigen Menschen (die es ja auch nicht hat) traf ich in einer Auto-Werkstatt einen Kfz-Mechaniker, der – wie sich herausstellte – fließend Deutsch sprach. Auf meine Frage antwortete er, dass er in der Schule Deutsch gelernt habe und diese Kenntnisse ihm in seinem Beruf sehr geholfen haben. Vor einigen Jahren noch waren nämlich alle Handbücher und Listen für die Fahrzeuge, mit denen er zu tun hatte, ausschließlich in deutscher Sprache vorhanden. Inzwischen aber gäbe es keine deutschen Handbücher mehr, sondern nur noch englische. Interessant ist vielleicht am Rande, dass es sich um die Generalvertretung einer amerikanischen Automarke handelte (die allerdings auch in Deutschland Autos produziert). Wie die Situation bei den Vertretungen deutscher Automarken aussieht, habe ich nicht überprüft, doch kann ich mir vorstellen, dass dort die Handbücher ebenfalls auf englisch vorliegen.
Doch zurück nach Siebenbürgen und zu den jungen und jugendlichen Deutschsprechern und –lernern dort.
Es gibt z.B. in Sibiu eine Vielzahl von Bibliotheken, die alle über mehr oder minder große Mengen an deutschen Büchern verfügen. Einen Überblick darüber, was es für deutsche Bücher in welcher Bibliothek gibt, hat der interessierte Laie nicht und oft scheint es, als ob selbst die Fachleute nicht Bescheid wüssten. Von offizieller deutscher Seite wurde und wird der an deutscher Literatur Interessierte in Hermannstadt tatkräftig unterstützt, doch wird ihm nicht der Zugang zu der bereits vorhandenen Literatur erleichtert, sondern es werden Berge von neuer Literatur an diverse Stellen gespendet und gestiftet, die das Chaos und die Menge der ungelesenen Bücher noch vergrößern.
Natürlich hat die Versorgung mit aktueller, neuer Literatur durchaus ihre Berechtigung und ist gerade im Ausland außerordentlich wichtig. Dennoch sollte man zuerst die vorhandenen Bestände sichten und systematisch katalogisieren, so ein Bewusstsein für die bereits vor Ort existierende Literatur wie auch eine funktionierende Infrastruktur für die Systematisierung und Katalogisierung der Bücher schaffen, damit nicht die neuen Bücher ebenso schwer greifbar sind wie die vorhandenen Werke. Oft genug geschieht es, dass Buchspenden nicht einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden, sondern in ihren Kisten verbleibend in irgendwelchen Kellern eingelagert werden, oder auf privaten Bücherregalen zu stehen kommen.
Zum Glück gibt es für den an deutscher Sprache Interessierten noch andere Medien. Genau das wird ja – wie allgemein bekannt ist – von offizieller Seite auch gebührend unterstützt und so ist die Deutsche Welle in Rumänien im Kabelnetz zu empfangen. Oft genug allerdings, und der Eindruck mag täuschen, womöglich überwiegend (was am zufälligen Einschalten des Autors gelegen haben mag), sendete DW auf Englisch, und nur gelegentlich konnte man Programme auf Deutsch und – ungefähr genau so oft – auf Spanisch sehen.
Die Studierenden schien das aber nicht weiter zu stören, denn über irgendeine Sendung der Deutschen Welle konnte man sie niemals diskutieren hören. Wohl aber über das reguläre Programm von RTL2, von Sat1, von Pro7 und von VIVA, alles Kanäle, die ebenfalls über das rumänische Kabelnetz zu empfangen sind. Über alle Sendungen, die dort liefen, waren die rumänischen Studierenden bestens im Bilde und häufig gab es in diesem Zusammenhang interessante Diskussionsanlässe , ob es „Big Brother“ war oder eine Talk-Show a la „Bärbel Schäfer“, die nicht erst raffiniert didaktisiert vermittelt werden mussten, sondern die aufgrund eines genuinen Interesses von studentischer Seite angeregt wurden.
Wenn man nun das Programm der Deutschen Welle mit dem eines der genannten Privatsender vergleicht, dann schneidet letzteres natürlich in vielfacher Hinsicht schlechter ab. In einem Punkt aber lässt es das offiziell geförderte Kulturprogramm weit hinter sich, ein Punkt, der, gerade wenn es um die Vermittlung von Sprachkenntnissen und einem Verständnis von einer fremden Gesellschaft geht, von eminenter Bedeutung ist: Das Programm von Pro7, Sat1 und VIVA interessiert junge Leute und motiviert sie, die dort vermittelten Inhalte zu verstehen, mit anderen Worten: motiviert sie sich mit der deutschen Sprache auseinander zu setzen.
Die Erfahrung zeigt, dass der Weg zu einer Sprache immer am besten über Inhalte verläuft. Sprache ist niemals Selbstzweck und freiwillig wird niemand eine Sprache lernen, wenn der Grund nicht auf der Hand (oder vor den Augen liegt). Wenn der Automechaniker die Handbücher und Anleitungen zu einem neuen Fahrzeugtyp auf deutsch findet und wenn der Jugendliche das neue Interview mit seiner Lieblingsband auf deutsch bei VIVA sehen kann, dann wird er sich sicherlich nicht eine Dokumentation über deutsche Trachten – womöglich noch auf spanisch – bei der Deutschen Welle anschauen, sondern er und der Mechaniker werden ein von sich aus begründetes Interesse daran haben, diese Sprache zu lernen. Zu Zeiten von Einstein und Werner von Braun wurde die überwiegende Mehrheit der Fachpublikationen in der Physik weltweit auf deutsch verfasst und wer Physik studierte, hat natürlich auch deutsch gelernt. Wenn heute die deutsche Physik ... aber das gehört nicht hierher und ist sattsam bekannt.
Wenn heute die deutschen Kultusministerien zu der Erkenntnis kommen, dass in der Schule vielleicht „Harry Potter“ gelesen und erst später zu den Klassikern übergegangen werden soll, um die Schülerschaft überhaupt zum Lesen bringen, dann spiegelt diese Erkenntnis nichts anderes wieder als das bereits Gesagte. Es muss ein Bezug für den Lernenden bestehen zwischen dem Lernstoff und seinem Leben, ohne Motivation erreicht der beste Lehrer im Idealfall nur einen Bruchteil von dem, was ein interessierter Schüler sich ohne raffinierte Planung aus Eigenantrieb aneignen kann.
Leider hat sich diese Erkenntnis bei den Anstrengungen um die Förderung der deutschen Sprache im Ausland noch nicht durchgesetzt. Stattdessen wird mit Riesenaufwand eine weltabgewandte, ineffiziente und langfristig ins Leere verlaufende Scheinförderung betrieben, die letztendlich der deutschen Sprache im Ausland womöglich eher schadet als nutzt.

Von der Idee, Fußballprofi zu werden

Es war neulich, da ist etwas Seltsames passiert. Ich saß vor dem Fernseher, trank ein Glas Rotwein und schaute einem Fußballspiel zu. Auf einmal durchfuhr mich ein seltsamer Gedanke: Ich wollte Fußballprofi werden. Wer mich kennt, der wird sich wohl wundern und meinen, jetzt hätte ich vollkommen den Verstand verloren. Außerdem sei es mit 35 Jahren ja vielleicht auch schon ein bisschen spät für solche Pläne. Klar, zunächst einmal klingt das wirklich ziemlich weltfremd und komisch. Andererseits wissen die alle ja nicht das, was ich weiß. Während ich dem bunten Treiben auf dem Rasen zusah und mir alle möglichen und unmöglichen Einwände in den Sinn, wurde ich immer überzeugter, dass ich wahrscheinlich ein großartiger Fußballprofi wäre und längst auf dem Zenit meiner Fußballprofi-Karriere stehen würde. Wenn nicht, ja wenn nicht ein entschiedenes Hindernis diese traumhafte Laufbahn bereits im Ansatz zunichte gemacht hätte. Seit meinem achten Lebensjahr habe ich nämlich eine Brille, und war dieses untrügliche Zeichen meiner Behinderung anfangs noch ein Grund dafür, sich zu schämen, so habe ich mich doch im Laufe der Jahre, fast schon Jahrzehnte daran gewöhnt. Eigentlich ist es mehr als das, die Brille ist ein Teil von mir geworden. Und genau so, wie man nicht mutwillig die Hand auf die Herdplatte oder den Fuß unter die Straßenbahn legt, genau so habe ich mich immer dagegen gewehrt, diese meine Brille in die Flugbahn eines kraftvoll beschleunigten Lederballs zu halten. Und das, seit ich die Brille ohne Unterbrechung und von morgens bis abends trage. Abgerechnet das halbe Schamjahr also ungefähr seit meinem neunten Lebensjahr. Mit anderen Worten: Bei allen Gelegenheiten, da ich an Fußball-Veranstaltungen teilnahm, und für einen Jungen in einer Schulklasse mit neun anderen Jungs gibt es da einige, war ich ein hoffnungsloser Fall und ständig Zielscheibe von bösen und gemeinen Bemerkungen. Apropos Zielscheibe: Da ich auch nicht gerade schnell laufen konnte oder wollte und überdies der Längste in der Klasse war, stand ich natürlich im Tor. Und jedes Mal gab es da während diverser Fußballturniere Augenblicke, wo ich mit Stolz an die große Verantwortung dachte, die ich von meinen Mitschülern übertragen bekommen hatte. Dann stand ich da mit geschwellter Brust und erhobenen Hauptes und genoss dieses Gefühl, der wichtigste Mann auf dem Platz, oder doch einer von zweien, zu sein. Leider endete dieses Gefühl jedes Mal abrupt und grausam in dem Augenblick, in dem sich ein gegnerischer Spieler mit dem Ball vor unser Tor verirrte und meistens – ich formuliere es mal so – den Ball auch an mir vorbei hineinbugsierte. Ich weiß nicht, ob es stimmt, was meine Kameraden mir dann hinterher vorwarfen, ich weiß wirklich nicht, ob ich dem Ball jedes Mal ausgewichen bin. Woran ich mich aber erinnern kann, war der Augenblick, wenn ich den Ball nach dem gegnerischen Tor wieder ins Spielfeld bringen durfte. Hier liegt auch der entschiedene Vorteil des Torwartes. Er nämlich ist der einzige, der während des Spiels in Ruhe den Ball schießen kann, und zwar nachdem er ihn aus dem eigenen Netz gefischt hat.
Ich widmete mich dann anderen Dingen. Beim Küssen, so hatte ich mich bemerkt, ist eine Brille nämlich keineswegs hinderlich, sondern eröffnet einem an einem gewissen Punkt Möglichkeiten, die den ballschießenden Mitjungs eindeutig nicht gegeben waren. Schließlich war die Schulzeit noch die Periode, wo Mädchen der Überzeugung sind, dass brillentragende Jungen die besseren Küsser sind. Hat vielleicht damit zu tun, dass Brillenträger weniger Sport treiben, also mehr lesen, also zartfühlender und empfindsamer sind. Dass sie auch unsportlicher sind, ist ja in dem Alter noch kein so großes Problem.
So habe ich dann die nächsten zweieinhalb Jahrzehnte verbracht, lesend und küssend. Es war bestimmt eine schöne Zeit, die ich auch nicht missen möchte, doch jetzt, so wurde es mir vor dem Fernseher bewusst, jetzt ist die Zeit für Veränderungen, und zwar solche radikaler Art.
Mir war vollkommen klar, dass alles nur an meiner Brille lag. Die Trennung von ihr viel mir nicht allzu schwer, da mein Versuch, als Intellektueller reich und berühmt zu werden, auch nicht wirklich erfolgreich war. Gut, das mit dem Küssen war etwas anderes. Ich bin, wie soll ich sagen, in diesem Bereich schon zu Ruhm und Ehre gekommen, hatte mittlerweile sogar eine wunderschöne und obendrein noch über alle Maßen intelligente Ehefrau. Trotzdem fehlte mir etwas, und zwar so was, wo ich mich noch beweisen könnte, als Mensch und als Mann als solcher. Was läge da näher als der Fußball? Die Sache meiner Frau zu erklären schien mir hoffnungslos, also ließ ich es und ging einfach so zu meinem Optiker um mir endlich Haftschalen für die Augen zu beschaffen. Als ich diese dann abholte fühlte ich mich bereits wie ein neuer Mensch. Auf einmal sah ich die Welt ohne Rahmen, ohne Begrenzung. Allerdings muss ich gestehen, dass damit auch einige andere Dinge wegfielen. Ich hatte ja gelernt, dass alles, was sich innerhalb eines Rahmens befindet, auch irgendwie zueinander in Beziehung steht und somit im Zusammenspiel auch einen gewissen Sinn darstellt. Das fiel jetzt auf einmal weg! Mit anderen Worten: Alles was ich sah machte auf einmal keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn mehr. Wohin ich auch schaute, die Welt war für mich sinnlos und vollkommen unverständlich geworden. Es dauerte nicht allzu lange bis zu dieser Erkenntnis und sie traf mich völlig unvorbereitet. Ich setzte mich auf die nächste Bank und schloss die Augen. Das mein neues Leben ein komplett anderes werden würde, das war mir vorher bereits klar gewesen. Aber das sich auf einmal auch mein Alltag und überhaupt alles verändern würde, darauf war ich nicht gefasst. Ich dachte an meinen Masterplan, die Idee, ein Fußballprofi zu werden und ich fragte mich, ob ich jetzt überhaupt noch in der Lage sein würde, konsequent und ohne Zögern mein Leben umkrempeln und das feindliche Tor erstürmen zu können. Blinzelnd und augenreibend ging ich nach Hause und setzte mich schwer aufs Sofa in unserem Wohnzimmer. Plötzlich stand meine süße Frau in der Tür und fragte, was denn mit mir los sei. Ich sah sie an, etwas zaghaft und vorsichtig und da stand sie. Ich erhob mich vom Sofa, ging auf sie zu, nahm sie in meine Arme und küsste sie lang und innig und auf einmal, da in unserem Türrahmen, genau zwischen Wohn- und Schlafzimmer, machte alles auf einmal und endgültig wieder Sinn.

Grüne Woche und Nabelschau oder: Der 2. Berliner MOE-Kompetenztag (2003)

Grüne Woche und Nabelschau
oder: Der 2. Berliner MOE-Kompetenztag

Wir haben da also: Kohlrouladen, mit Spinat gefüllte Blätterteig-Taschen, süßes Gebäck, Erdnüsse, Schnaps, Wein und Bier. Dann wäre da noch die Musik russischer Roma, die Bücher tschechischer Autoren und die Dracula-Park-Prospekte rumänischer Tourismus-Minister. Als letztes wären vielleicht noch die Reiseprospekte und die Broschüren zu den kroatischen Restaurants und Schönheitschirurgen zu nennen. Et voilà! Damit hätten wir so ungefähr das Gesamtergebnis vorliegen: Die geballte Berliner MOE-Kompetenz an einem Platz versammelt.
Das in etwa bot sich dem an mittel- und osteuropäischen Menschen und Projekten in Berlin Interessierten gestern auf dem 2. Berliner MOE-Kompetenztag im Roten Rathaus. Und es war durchaus wohlschmeckend und hübsch anzusehen, was da präsentiert wurde. Dennoch wurde man den Eindruck nicht los, dass man womöglich doch auf der falschen Veranstaltung...?
Angekündigt war die Veranstaltung, die unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit stand, mit dem Titel „Die Mittel- und Osteuropakompetenz der Stadt Berlin – Mittel- und Osteuropäer/innen in der Stadt“, doch leider hielt sie nicht, was ihr Name versprach.
Nach der offiziellen Begrüßung im bis auf den letzten Platz gefüllten Festsaal des Rathauses durch Monika Helbig, Staatssekretärin und Europabeauftragte des Landes Berlin, hielt der Direktor des Instituts für Europäische Ethnologie an der HU Berlin, Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba einen einführenden Vortrag mit dem Titel „Mittel- und Osteuropäer/innen in der Stadt – Chancen und Potentiale (sic!)“. Der nun folgende, kenntnisreiche und durchaus unterhaltsame Vortrag schien das Dilemma der gesamten Tagung vorzugeben. Denn nach einigen sehr anregenden Gedanken zur Definition und Eingrenzung der Begriffe Mitteleuropa und Osteuropa begann der Referent ausgiebig, seine eigene Biografie und die darin enthaltenen Bezüge zum Thema darzustellen. Merke: Wenn man nach MOE-Kompetenz befragt wird, dann schaut man lange in den Spiegel und berichtet anschließend darüber, was man sieht in der Hoffnung, dass die Kompetenzen dem Gegenüber schon deutlich werden. Und dass fast jeder von uns etwas sieht, dass liegt ist wohl klar.
Bei der anschließenden Podiumsrunde war das Verfahren das Nämliche. Ein Vertreter der polnischen Botschaft, ein ungarischer Schriftsteller und eine polnische Geschäftsfrau berichteten von „ihrer MOE-Kompetenz“. Einzig der tschechische Studienleiter der Europäischen Akademie Berlin, Jaroslav Sonka, fiel etwas aus dem Rahmen, da er neben Lob an der Veranstaltung und Anekdoten aus dem eigenen Leben (wie die anderen Redner quasi zur Authentifizierung der eigenen MOE-Kompetenz) Kritik am Verhalten gegenüber Mittel- und Osteuropäern bekundete, dass entweder unwissend, gleichgültig und ignorant oder bis zur Unerträglichkeit freundlich sei.
Im Einführungsvortrag wurde auf die Bedeutung Berlins für das Verhältnis zu Ost- und Mitteleuropa eingegangen und die Rolle, die Berlin schon in den 20er Jahren spielte sowie die Bedeutung, welche die fremden, weil fremdländischen Einflüsse auf das Leben Berlins zur selben Zeit hatten. Ein Bezug zur Gegenwart ließ sich leider nicht finden.
Die Frage, die während der gesamten Veranstaltung unangesprochen im Raume stand und die entsprechend unbeantwortet blieb, war: Nutzt Berlin sein Potenzial an Menschen aus Ost- und Mitteleuropa, die hier mehr (z.B. die russische Community) oder weniger (z.B. die polnische oder die rumänische Community) deutlich erkennbar leben? Wie die brachliegenden Potenziale nutzbar zu machen wären, auch diese Frage wurde nicht gestellt.
Also besinnt man sich auf die Grundlagen des Lebens, zeigt was man kocht und wie man singt und wie schön die Natur des Heimatlandes doch ist.
So lassen sich die MOE-Kompetenzen in und für Berlin ganz bestimmt nicht nutzen. Prost! Noroc! Nasdorowje!

Großstadtgeschichte 1 (2003)

Gestern abend hab’ ich wohl mal wieder den Mund etwas zu weit aufgerissen. Aber wer konnte auch ahnen, wo das hinführen würde.
Ich saß auf meinem Balkon, wohlverdient die friedliche Stimmung nach getanem Tagwerk und erledigter Arbeit genießend, dabei der Sonne bei ihrem Lauf Richtung Horizont und Untergang zusehend. Leise sog ich an meiner letzten Zigarette (der mittlerweile fünften in diesem Monat), eines dieser modischen Erfrischungsgetränke in der Hand. Da sah ich, wie meine Nachbarin von gegenüber ihren Balkon präparierte: Kerzen wurden aufgestellt und illuminiert, zwei Weingläser inklusive Rotweinflasche (geöffnet, wg. Blume) auf den mit unifarbener Tischdecke bereits veredelten Klapptisch postiert, Teller und Besteck, Ascher und Blumenvase in bewährter Manier drapiert. Die Nachbarin selbst mit weißer Bluse und schickem Beinkleid dazu angemessen gewandet. Ich schaute mir das Treiben eine Weile an, dann rief ich hinüber: „Spar Dir die Arbeit. Er kommt nicht, ich habe ihn heute nachmittag mit einer anderen gesehen!“ Ich hab’ mir ehrlich gesagt nicht allzu viel dabei gedacht, folgte damit nur einer spontanen Eingebung. Meine Nachbarin blickte auf, wie vom Donner gerührt, mich dabei zum ersten Mal bemerkend und rief rüber: „Sag’ das nochmal!“
Nun muss man vielleicht anmerken, dass unsere Straße nicht eine der meistbefahrenen ist, eher sogar einen recht ruhigen Verkehrsweg darstellt. Schmal ist sie dabei dennoch nicht, und S- wie Autobahn tragen zu einem permanenten Pegel von spürbarer Intensität nicht unwesentlich bei. Jedenfalls reicht ein Flüstern oder Normalsprechen eindeutig nicht aus, wenn man quer über die Straße von Balkon zu Balkon Konversation treibt. Das hatte ich jedenfalls gemerkt, als ich versuchte, mein doch etwas weites Aus-Dem-Fenster-Lehnen wieder rückgängig und am besten gleich vergessen zu machen. Ging aber nicht, also wiederholte ich meine Aussage, worauf sie erst laut fluchte, dann über den Aufwand des Essenkaufens und -zubereitens lamentierte, und schließlich, quasi als Klimax dieser Nervenkrise, darauf bestand, dass ich dann aber wenigstens an Stelle des treulosen Thomas (sozusagen) ihr neuer Tisch- und nicht nur Balkonnachbar werden müsse. Gesagt, getan, vorher rief sie mir kurz noch ihren Namen zu, damit ich die richtige Klingel fände.
Na ja, viel Spaß hatte ich an dem Abend nicht. Auch wenn ich meine Geschichte inzwischen selbst geglaubt hatte, kam der ursprünglich geladene Gast, der wirklich Thomas hieß und im übrigen ihr langjähriger Verlobter und ein wirklich anständiger Kerl war, dann doch noch mit einer kleinen Verspätung (der Berufspendler war im Stau steckengeblieben) an. Mir hat er fast überhaupt nicht weh getan.
Ich bin dann ohne Abendbrot direkt schlafen gegangen. Den Balkon werde ich untervermieten.

Eine Arabische Nacht - Notizen zu einer Inszenierung (2005)

1942 schreibt der französische Dichter Albert Camus den Roman „L’Etranger“ (Der Fremde“). 37 Jahre später – im Jahre 1979 - komponiert der Engländer Robert Smith das Lied „Killing an Arab“, welches das Buch von Camus als Vorlage nennt. 2001 verfasst der Göttinger Autor Roland Schimmelpfennig das Stück „Die arabische Nacht“. 2005 wird es am Radu-Stanca-Theater in Hermannstadt in der Inszenierung von Radu Nica an der Deutschen Abteilung aufgeführt.

Ein interessantes Phänomen: Wir werden immer älter, das Theater immer jünger. Ernährt es sich etwa von uns? Und, die viel wichtigere Frage: Verstehen wir uns noch?

Ein langer heißer Tag in einer Stadt geht zu Ende. Das gleißende Sonnenlicht blendet die Menschen auf der Straße. Wir befinden uns in einem Hochhaus in einem Land, wo die Menschen Lohmeier, Karpati, Kalil, Franziska und Fatima heißen. Es gibt ein Problem mit dem Wasser, der Fahrstuhl ist kaputt. Einer beobachtet eine beim Duschen, eine andere träumt von wieder anderen, die beiden, die zueinander gehörten, gehen getrennte Wege im Verlaufe des Abends, es gibt einen Mord (gibt es einen Mord?) und einen Mann in einer Flasche.

Das Theater auf der Suche nach sich selbst geht seltsame (Um-)Wege: über ein anderes Medium. Wie der Film verwendet es moderne Musik und Geräusche, um Gefühle zu evozieren und Szenenwechsel zu vollziehen. Wie der Film springt es zwischen Perspektiven und Einstellungsgrößen hin und her.
Was ist das Ergebnis?

Es ist ein rasantes Stück, das den Atem nimmt. Und es ist ein Stück, das von dem jungen Team lebt, das es auf die Bühne nach Hermannstadt gebracht hat. Die Lust am Spielen ist während der Aufführung in jeder Sekunde spürbar und überträgt sich auf die Zuschauer. Die übrigens auf der Bühne sitzen.
Andere Ideen bei dieser Inszenierung sind besser, manche großartig. Die beste wahrscheinlich die Einführung einer zusätzlichen Person auf der Bühne, die von erhöhtem Platze aus verschiedene Funktionen übernimmt: Ton-Ingenieurin, Reflektor-Figur, Akteurin, manchmal Kommentatorin.

Auch vom Hörspiel scheint das Stück Anleihen zu nehmen: Die Handlungen der Schauspieler - die sich übrigens in der Regel mit sich selbst beschäftigen und kaum echte Gespräche führen – werden von ihnen selbst beschrieben, so dass man streckenweise mit geschlossenen Augen teilhaben kann.

Wen wollen wir loben, wen tadeln? Gelobt werden sollen alle Beteiligten, die mit dem erfolgreichen und – immer noch – jungen Regisseur Radu Nica Mut und Lust bewiesen haben, dieses Stück auf die Bühne zu bringen.
Tadel ist heilsam, Tadel hat eine abschreckende Wirkung, deshalb soll der Autor heute in der Ecke stehen: Roland Schimmelpfennig hat ein Stück geschrieben, das nett zu goutieren ist und dem Zuschauer aufzeigt, dass die Menschen in der großen Stadt einsam sind und nicht wahrhaftig zueinander finden. Und dass es keine Kommunikation gibt. Bravo. Wer will, der kann auch die Problematik der Geschlechter und der multikulturellen Gesellschaft sowie die Rohstoffknappheit und die globale Erwärmung in diesem Stück finden. Ich will nicht.

(Love and...) Die Liebe und die Beutelschneiderei (...can’t get one without the other!) (2002)

Endlich ist er da, der Frühling. Die Sonne wärmt uns die Kopfhaut und das Herz, die Hormone und die Stimmung steigen und so mancher wird tollkühn. So ist auch dem Verfasser dieser Zeilen ergangen, allerdings begann das Abenteuer bereits vor einiger Zeit. Wohl in einem Moment geistiger Umnachtung entschloss er sich, in Rumänien den heiligen Bund der Ehe zu schließen. Das es nicht einfach ist, den richtigen Menschen fürs Leben zu finden und die Liebe wachsen und gedeihen zu lassen, ist sicherlich richtig, doch davon soll hier keineswegs die Rede sein. Hier geht es vielmehr um die wahnwitzige Kühnheit, den todesverachtenden Mut, den es braucht, um die Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, die einem von hochoffiziellen Stellen zwischen die Beine und vor den Gang zum Standesamt geworfen werden. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, dann ich weiß nicht, ob ich noch einmal den Mut und die Kraft aufbringen würde, es zu tun. Werfen wir aber zunächst einen Blick zurück: Zwei Menschen, einer Deutscher, einer Rumäne (dabei heterosexuell) entschließen sich zu heiraten. Der Deutsche informiert sich bei seiner Landesvertretung und erfährt dort, was er benötigt: Zuallererst ein sogenanntes Ehefähigkeitszeugnis. Das er fähig ist, weiß er und wurde ihm mehrfach (will nicht angeben und sagen: allabendlich) von seiner Partnerin bestätigt, doch das tut hier nichts zu Sache. Es gehe vielmehr darum zu beweisen, dass man weder verwandt noch verschwägert sei mit seiner Zukünftigen und auch nirgendwo sonst eine Ehefrau hat. Dafür benötigt man: Von der Zukünftigen eine Internationale Geburtsurkunde, die vom Rumänischen Außenministerium mit beglaubigt ist oder, wie der Fachmann sagt, mit einer Apostille (schon mal gehört?) versehen ist. Hört sich einfach an, doch wer hat schon einmal mit einer großen Rumänischen Behörde zu tun gehabt? Dann braucht man noch eine Abschrift aus dem elterlichen Familienstammbuch und seine eigene Geburtsurkunde. Außerdem braucht man für das Ehefähigkeitszeugnis eine Ledigkeitserklärung der Zukünftigen, welche diese aber nur vor einem rumänischen Notar machen darf. Das ist aber wohl nicht immer so, denn häufig würden solche Erklärungen auch beim Konsulat gemacht und beim deutschen Standesamt akzeptiert. Das Standesamt des Verfassers hat dieses nicht anerkannt, was er zum Glück vor seiner Reise nach Deutschland erfahren konnte. Das deutsche Standesamt hat sich dann als freundliche, aber nicht immer sofort hilfsbereite Behörde erweisen. Stolz alle Unterlagen präsentierend zeigte der deutsche Beamte auf die Internationale Geburtsurkunde der Zukünftigen und meinte trocken: „Das müssen Sie aber noch übersetzen lassen!“ Als der Verfasser darauf hinwies, dass es sich doch um ein internationales Dokument handele, was dreisprachig verfasst sei, ließ er sich erweichen und verstand schließlich auch.
Mit dem Ehefähigkeitszeugnis kommt man also stolz aus Deutschland zurück und geht zum Rathaus, um sich nach weiteren Papieren zu erkundigen. Da heißt es dann: Die Geburtsurkunde im Original, als beglaubigte Kopie und mit notarieller Übersetzung. Klingt auch erst einmal einfach, doch erfährt man beim ersten Notar, dass ein rumänischer Notar keine beglaubigte Kopie einer ausländischen Urkunde anfertigt (oder anfertigen kann oder darf). Mit Hilfe des Rathauses findet man aber schließlich einen Notar, der keine Skrupel hat und die Kopie beglaubigt. Dann benötigt man eine Erklärung des Konsulats, dass keine Bedenken vorliegen und man heiraten dürfe. Für diese Erklärung sollte man jedoch auf keinen Fall nur seinen Personalausweis zu Identifizierung bei der deutschen Behörde mitbringen, weil das von der rumänischen nicht akzeptiert wird. Das bedeutet ein weiterer Weg. Als nächstes braucht man dann noch seinen Reisepass und eine Kopie davon, seltsamerweise ohne Beglaubigung! Die Zukünftige muss in der Stadt (bzw. in dem Kreis) gemeldet sein, in dem man heiraten möchte, sonst geht es nicht. Wenn es keine guten Freunde gibt, die da aushelfen, sieht es schlecht aus, denn welcher Vermieter ist so ohne weiteres bereit, einen weiteren Mieter anzumelden? Gottseidank gibt es ja die guten Freunde und ein „Visa de Flotant“ ist beschafft.
Damit ist der Kreuzweg aber noch lange nicht zu Ende, denn jetzt wird es richtig spannend: Das rumänische Gesetz verlangt Gesundheitszeugnisse von den zukünftigen Eheleuten. Diese dürfen zum Zeitpunkt der Hochzeit nicht älter als 14 Tage sein, somit bleibt nicht viel Zeit. Im Gesundheitszeugnis wird bestätigt, dass das Ehepaar in spe weder syphilitisch noch tuberkulös ist. Dafür muss man zum staatlichen Krankenhaus, eine spezielle Stelle, die auch gar nicht so einfach zu finden ist. Sobald dort aber ein Ausländer auftaucht, kommt für kurze Zeit Leben in die sonst eher scheintot wirkenden Gestalten. „Haben Sie schon bezahlt?“ schallt es dem verliebten Ausländer entgegen, und nach erneuter Suche und dem Aufscheuchen mehrerer mürrischer und gerade bei der Brotzeit befindlicher Damen in ihrem Büro zahlt der rumänische Teil seine 10.000 Lei Gebühren, der ausländische Teil 1.000.000 Lei. Was? Na ja, so ist es nun mal. Man kehrt zurück, erhält Formulare und sucht sich Stellen, wo die Untersuchungen gemacht werden können. Für die Lungenaufnahme gibt es leider nur eine staatliche Stelle in Hermannstadt, die Blutuntersuchung macht aber auch eine private Klinik. Am nächsten Tag in aller Früh und mit nüchternem Magen geht es dann zuerst zum Aderlass. Dort ist man freundlich und professionell bei der Arbeit, die Ergebnisse können am selben Tag abgeholt werden, und die Kosten sind überschaubar (55.000 Lei für jeden). Bei der Lungenklinik ertönt unfreundlich die bekannte Frage: „Haben Sie schon bezahlt?“ und nach Vorlage der Quittung wird es auch nicht freundlicher, da man nur in der Polyklinik, nicht aber in der Lungenklinik bezahlt hat. Dort dann wieder die übliche Prozedur, einmal 10.000 Lei, einmal 1.000.000 und etwas Lei, anschließend geht es wieder hinein in die folterkammerartigen Gewölbe der Röntgenklinik. Die Frau, welche die Aufnahme macht, ist dann überraschend nett, was den Verfasser zu der Überzeugung bringt, das alle staatlichen Angestellten, Sekretärinnen und Vorzimmerdamen monatlich mindestens zweimal geröngt werden sollten, da Röntgenstrahlen offensichtlich menschlicher machen.

Von der (fröhlichen) heiligen Wissenschaft (2002)

Eines Tages setzte der Vater sich zu seinem Kinde und begann zu erzählen: „Liebes Kind, lass mich Dir heute einmal von etwas ganz besonders Wichtigem für uns alle erzählen: Ich möchte Dir von der Wissenschaft berichten. Da beschäftigen sich grundanständige und intelligente Menschen mit allem, was uns so umgibt, mit der Natur, mit der Konstruktion von Brücken und Kanalisationen, mit der Entwicklung von Textilien und speziellen Lebensmitteln, mit fremden Sprachen, mit Literatur, der Geschichte und unseren Körpern und den dazugehörenden Krankheiten. Die Leute, die sich da den ganzen Tag mit Büchern und Forschungen auseinandersetzen sind neutral, unparteiisch, eben wissenschaftlich. So heißen sie auch: Wissenschaftler. Diese Menschen findet man vor allem in der sogenannten Hochschule oder – ein anderer Name – Universität. Da treffen sie sich, dort arbeiten sie und dort machen sie noch etwas ganz Wichtiges: Sie kümmern sich um die schlausten jungen Menschen unseres Landes, erzählen ihnen alles, was sie wissen und selbst gelernt haben. So können diese jungen Menschen später wichtige Aufgaben in unserem Land übernehmen, oder selber Wissenschaftler werden und wiederum den Nachwuchs ausbilden. Weil diese jungen Menschen für unsere Zukunft ganz besonders wichtig sind, werden sie mit Hochachtung und Respekt behandelt. Sie müssen schließlich viel lernen, um unser Land zu führen und später in ihren wichtigen Positionen Bedeutendes leisten.“
Am nächsten Tag unternahm der Sohn einen Spaziergang mit seiner Tante (die an der Universität arbeitete) und kehrte verwirrt zu seinem Vater zurück. „Vater, hast Du mich gestern angelogen? Alles, was ich bei der Tante gesehen habe, war ganz anders als Du gesagt hast! Die Universität war sehr schön anzusehen, ein altes und vornehmes Gebäude, aber dann hat mir die Tante erklärt, dort sei nicht die Universität, sondern dort säße der Chef und die vielen vielen Männer und Frauen, die mit dem Geld der Universität beschäftigt seien. Die Tante erklärte mir auch, dass sie in das alte Gebäude selbst nicht so einfach hineinkönne, sondern eine spezielle Karte brauche oder einen Termin. Die Universität war dann auf der anderen Seite und auch ganz schön. Aber wieder musste ich mich doch wundern, denn wir durften nicht durch den schönen Eingang gehen. Der war nämlich abgeschlossen und nur wichtige, also ganz wichtige Leute (meistens Männer) dürften da hindurchgehen, erklärte mir die Tante. Wir, und auch die vielen Studenten mussten eine kleine schäbige Hintertür benutzen. Das war eng dort! Die Räume, in denen die Studenten saßen, waren ganz kalt und die Möbel waren alt und wackelig. Ganz anders als in dem schönen Haus, wo ich dann doch noch mit der Tante hingehen musste. Dort war es schön warm und gemütlich, die Leute hatten tolle Möbel. Und was das Komischste war: Genau so streng und unfreundlich wie die Tante vorher mit den Studenten sprach, so sprachen die Leute dort mit der Tante. Richtig unfreundlich waren die. Als wir zurückgingen, erzählte mir die Tante noch etwas, was so ganz anders war, als was Du mir gestern beschrieben hast. Sie sagte nämlich, dass die meisten Studenten hinterher weggehen würden aus unserem Land und woanders ihr Glück versuchten. Die Studenten aber, die hier bleiben, wollen am liebsten für den Chef irgendeiner ausländischen Firma Kaffee kochen, weil sie da mehr verdienen würden. Anständig sind die wichtigen Leute dort aber. Da hast Du mich nicht belogen, Vater! Als ich mit der Tante nämlich wieder in ihrem Büro war, hatte ich ein bisschen Zeit (die Tante musste arbeiten) und da habe ich ein Buch gefunden mit allen, die dort arbeiten. Und Ich habe nämlich herausgefunden, dass fast alle Namen von den wichtigen Leuten (das sind die, die ihr Büro in dem schönen Haus haben) noch einmal irgendwo auftaucht. Schließlich haben die ja alle eine Frau oder ein Kind, die ebenfalls Geld verdienen müssen. Das verstehe ich gut.
Trotzdem glaube ich, dass ich nicht so gerne Wissenschaftler werden möchte, wie ich Dir gestern Abend noch gesagt habe. Lieber werde ich Sekretärin. Die werden nämlich viel besser behandelt und frieren müssen die auch nicht. Und außerdem verdienen die auch viel mehr Geld, hat mir die Tante gesagt!“
Der Vater nimmt noch einen kräftigen Schluck aus der inzwischen fast geleerten Flasche, beugt sich zu seinem Kind und sagt: „Das hast Du alles ganz falsch verstanden. Wahrscheinlich bist Du doch noch zu klein dafür!“ und schickt es schnell zu Bett, bevor er eine neue Flasche öffnet.

Augen auf im Straßenverkehr! oder: Völker, hört die Signale ... der Autos! (2002)

Neulich beim Spaziergang durch Hermannstadt stand ich an einer Ampel und wartete auf grünes Licht. Da hörte ich schon von weitem eine sehr laute Autosirene heulend immer näherkommen. Mir war klar: Irgendein großer und vor allem wichtiger Mann ist unterwegs von A nach B. Denn in Rumänien hält sich noch immer die gute alte Tradition, die Straße großzügig frei zu räumen wenn irgendein Herr Großkopf mal wieder unterwegs ist (dieses Schicksal hat mich einmal auf dem Weg nach Bukarest erreicht und fast in den Graben katapultiert). Vielleicht sollten auch Politiker den Führerschein machen, dachte ich bei mir, dann würden die Normalsterblichen (was sie leider zu oft sind) nicht auf diese Weise belästigt.
Jedenfalls stand ich also da und wartete auf die Limousine, es kam aber ... ein Krankenwagen! Da wurde mir bewusst, dass sich einiges verändert in diesem Lande, oder zumindest in dieser Stadt. Normalerweise waren ja die Krankenwagensirenen die leisesten und unscheinbarsten im ganzen Lande und die lautesten waren...na, wie gesagt. Deutlicher kann man das Verhältnis eines Staates zu seinen Bürgern wohl kaum zum Ausdruck bringen. So werden die Prioritäten in jedem Lande anders gesetzt. Aber langsam scheint man sich nun bewusst zu werden, dass doch eigentlich das Volk (hat man dieses Wort nicht lange genug in Großbuchstaben geschrieben?) wichtig ist und menschenwürdige Lebensumstände das Minimum sind, das es erwarten kann. Ich will aber nicht predigen, das können andere besser (die verdienen sogar ihr Geld damit).
Überhaupt scheint die Straße ein Spiegel der Gesellschaft zu sein (spannend ist z.B. die Frage, wer wo parken darf). Manchmal aber empfiehlt es sich, mehrmals und genauer hineinzuschauen. Ein Beispiel: Auf den ersten Blick drängt und drängelt es von allen Seiten auf den Straßen und alle wollen immer die Ersten sein, an der Ampel, beim Einbiegen, beim Überholen. Das ist natürlich manchmal auch gefährlich, aber meistens geht es überraschend gut aus. Für jemanden, der sein Autofahrerdasein vorwiegend auf deutschen Straßen ausgelebt hat, ist der Verkehr hier zunächst nur mit ständigem Zähneknirschen und einem großen Vorrat an Nicht-Zitierfähigem zu ertragen. Mir standen beim Fahren eigentlich immer die Haare zu Berge angesichts der Respektlosigkeit, mit der anderen Autofahrern (und eben auch mir) begegnet wurde. Aber, und hier sollten Sie sich eine bedeutungsschwere Pause denken (vielleicht mal kurz aus dem Fenster gucken oder Ihr Glas nachfüllen), aber die Dinge sind nicht immer was sie scheinen, nicht alles, was Gold ist glänzt und wer einem anderen eine Grube gräbt, braucht noch lange kein Totengräber zu sein. Jedenfalls habe ich kürzlich eine für mich folgenschwere Entdeckung gemacht: Niemand regt sich auf! Egal, wie grob die Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung sind und gleichgültig auch, wie sehr um des eigenen Vorteils willen gedrängelt und gedrückt wird, gleichmütig nehmen die übrigen Autofahrer es hin. Sie bremsen ab, weichen aus, warten, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wir alle wissen, dass die wenigsten Menschen auf diesem Breitengrad „Pokerface“ genannt werden können und dass es häufig hoch her geht, auch in aller Öffentlichkeit, manchmal ohne Rücksicht auf Verluste.
Im Straßenverkehr aber herrscht Gleichmut und Ruhe auf den Gesichtern, zumindest was das Verhältnis zu den anderen Verkehrsteilnehmern angeht (wenn der Ehepartner im Auto sitzt, kann es dort durchaus laut zugehen, aber das ist ein anderes Kapitel). Ganz im Unterschied zum Westen, muss ich gestehen. Da ist alles vordergründig ordentlich und akkurat im Verkehr, aber wehe, wenn da jemand auch nur den kleinsten Vorteil für sich nutzt. Da wird geschimpft, gehupt und mit der geballten Faust geschüttelt, das es (k)eine Freude ist. Hier dagegen, wie gesagt, nonchalantes Laissez-faire. Zaghaft habe ich jetzt auch schon mal ein wenig gedrückt und gedrängelt, allerdings mit schlechtem Gewissen. Als sich dann wirklich keiner aufregte, bin ich mutiger geworden. Mittlerweile bin aber wieder ein anständiger Autofahrer und drängele nicht, lasse andere sogar vorbei. Warum? Na ja, in der Regel und fast immer ist man hier gleichmütig und freundlich im Straßenverkehr. Neulich aber hat mich – nach gewissen Querelen - ein Autofahrer kurz vor der Ampel rechts überholt, ist ausgestiegen und hat mir seinen Baseballschläger gezeigt. Da war ich dann doch beeindruckt und habe gemerkt, dass ich noch vieles lernen muss.

"Many rivers to cross" oder: Die Dreigroschenoper in Hermannstadt (2004)

Am Dienstag, dem 30. März 2004 hatte die Dreigroschenoper Premiere im Radu-Stanca-Theater in Hermannstadt. Selten für eine deutsche Inszenierung gab es an diesem Abend mehr Besucher als Kleiderbügel an der Garderobe: KlassenkollegInnen, stolze Eltern und die üblichen Verdächtigen bei deutschen Premieren in Hermannstadt (den Rezensenten natürlich eingeschlossen). Der geneigte Leser kann diesem Präludium unschwer entnehmen, dass es sich um keine gewöhnliche Inszenierung der deutschen Abteilung des Radu-Stanca Theaters handelte. Vielmehr konnten die Zuschauer dem Ergebnis einer jetzt schon vier Jahre währenden Kooperation zwischen dem Brukenthallyzeum und Franz Kattesch, Schauspieler des Radu-Stanca Theaters und des Deutschen Staatstheaters Temeswar, beiwohnen. Seit 1999 gibt es für die Schüler und Schülerinnen des Brukenthallyzeums die Möglichkeit, Schauspiel als Wahlpflichtfach zu wählen. Eine spannende Alternative zum üblichen Lehrplan, zweifelsohne, darüber hinaus aber die Gelegenheit, Lust, Liebe und Leidenschaft für das Theater zu entwickeln, womit dann auch zukünftige Regisseure, Schauspieler oder doch zumindest Zuschauer rekrutiert werden können.
Was diesmal auf dem Lehrplan stand war sicherlich mehr als nur eine Fingerübung. Verlangt wurde nämlich mehr, als normalerweise für das Theater üblich ist. Und auch das kann schon an die Grenzen eines Muttersprachlers führen. Wer schließlich beherrscht die Phonetik seines Landes fehlerfrei und auf der Spitze seiner Zunge? Bei Brecht reicht das aber nicht. Es muss neben dem Sprechen auch gespielt werden, und zwar anders als im klassischen Theater, nämlich „episch“. Bei Brecht meint das, die Rolle brechend, persiflierend, quasi über sie hinausschauend. Das klingt nicht nur schwer, das ist es auch. Aber, selbst damit ist man noch nicht am Ende angekommen. Die Dreigroschenoper verlangt nämlich obendrein noch das Singen. Mit Text. Der verstanden werden soll. Die Musik dazu allerdings ist auch nicht harmonisch und klar, sondern vielmehr das genaue Gegenteil davon.
Mit anderen Worten: Der Aufgaben waren viele an diesem Abend. Und mindestens so vielfältig wie die Aufgaben waren die Protagonisten des Abends jung an Jahren und an schauspielerischer Erfahrung. Doch, was soll man sagen? Auch wenn nicht jede Hürde ohne Stolpern überwunden werden konnte (welcher Ignorant hätte das auch erwartet, erwarten können?), so kann man doch mit Gewissheit sagen: Die Schauspieltruppe, die Franz Kattesch für diese Inszenierung auf den die-Welt-bedeutenden-Brettern um sich versammelt hat, war in der Lage, das Publikum in Bann zu halten und den Abend zu einem gelungenen zu machen. Und diese Aussage ist nicht dem Alter der Protagonisten und dem Respekt gegenüber der Leistung geschult, sondern vielmehr: Dem großartig agierenden „Peachum“, der die Rolle des Ganoven nicht nur in der Prosa, sondern auch im vorgetragenen Gesang überzeugend und souverän dargeboten hat. Gleichfalls seiner Tochter „Polly“, die schauspielerisch definitiv, im Gesang fast immer überzeugen konnte. Dem faszinierenden „Tiger Brown“, der offenbar ein Kenner der hiesigen Polizei-Akademie ist, alle Absolventen aber allein mit seiner Uniform weit in den Schatten stellt. Der ewig krakeelenden Gattin Peachums, dem Heer an Bettlern und Huren des Abends, dem Mut Mäcky Messers, auch mit zuviel „Klingen“ in der Stimme an vorderster Front zu agieren und den Zuschauern und Fräuleins dieser Welt Paroli zu bieten (= im übrigen ein probates Mittel gegen kratzigen Hals in Extremsituationen!). Und überhaupt: Dem Mut und der Lust der Schülerinnen und Schüler des Brukenthallyzeums, diesen Kreuzweg des Leidens auf sich zu nehmen, um hinterher die säuerliche Kritik eines älteren – obendrein ausländischen – Rezensenten zu vernehmen. Ich habe auch nur den Mut das zu schreiben, weil ich weiß, dass es nichts Größeres für einen Lyzeaner, eine Lyzeanerin gibt, als in der Öffentlichkeit einmal als Lude oder als leichtes Mädchen zu agieren. Genießt das, und werdet später Anwalt, Arzt oder Manager. Danke Euch und danke dem armen Herrn B. Für die Inspiration, und für den Abend.
P.S.: Peinlich fast, doch anzumerken sicherlich niemals zu spät: Die Hermannstädter Stadtmusikanten unter Kurt Philippi hat nicht nur ganze Arbeit geleistet, nein, ohne sie wäre der Abend eindeutig unharmonischer verlaufen!

(Fast) 400 Hochzeiten und 1 (nicht tödlicher, doch kritscher) Fall (2004)

(Fast) 400 Hochzeiten und 1 (nicht tödlicher, doch kritischer) Fall

Die europäische Kulturhauptstadt 2007, Hermannstadt, läuft sich im Augenblick warm und gibt eine Kostprobe dessen, was sie zu leisten imstande ist. Das 11. Internationale Theaterfestival bietet allen an Kultur Interessierten eine fast unüberschaubare Vielzahl an Möglichkeiten zur Erweiterung des eigenen Horizontes. Seit letztem Freitag (28.5.) gibt es in und um Hermannstadt so gut wie keine kulturfreien Zonen mehr. Dabei zeigt sich, dass fast das gesamte Spektrum der gegenwärtigen Theaterkunst abgedeckt wird, angefangen von klassischem Theater, über Boulevardbühne, „Boombastic“-Events bis hin zu experimentellem, minimalistischem Avantgarde-Theater. Eine kleine, subjektive Auswahl, der keine qualitativen, sondern pragmatische Kriterien zugrunde liegen (= die Fußfaulheit des Rezensenten): Am Samstag spielte die Taubstummen-Gruppe „I Cannot Hear Theatre“ aus der Tschechei ihre Version der Odyssee am Radu-Stanca Theater. War diese Inszenierung in den ersten Minuten noch schwer zugänglich, so gelang es den Schauspielern im weiteren Verlauf, mit einfachen Mitteln, dafür mit viel Phantasie und großem dramaturgischen Geschick beeindruckende Bilder zu schaffen, die nachhaltig auf die Zuschauer einwirkten. So verblüffte die Szene in der Höhle des Zyklopen: Der Schatten eines Schauspielers, hinter einem transparenten Paravent zu zyklopenhafter Größe angewachsen, davor Odysseus und seine Getreuen, die dem Zyklopen schließlich den Garaus machen. Im Unterschied zu dieser Inszenierung konnte das Stück „Odiseea 2001“ des kroatischen „Workshop Theatre Gustl“ am Montag im Gong-Theater nicht in der gleichen Weise überzeugen. Zu sehr wurde hier auf die Effekte von sehr lauter elektronischer Musik und Video-Einspielungen vertraut. Interessant und sehenswert war diese Inszenierung jedoch allemal. Apropos Effekte, und hier begibt man sich wahrscheinlich auf sehr dünnes Eis. Der Hermannstädter Hof-Regisseur McRanin präsentierte am Samstag auf dem Großen Ring seine Version des „Satiricon“ mit Schauspielern aus Hermannstadt. Im Vorfeld hieß es bereits: „Ach McRanin, da kracht und knallt es wieder gewaltig, und Feuerwerke schießt er sicher auch wieder ab.“ Genau so war es dann auch. Die Meinungen der Zuschauer im Anschluss an diese große und pompöse Inszenierung waren extrem gespalten und reichten von „super, beeindruckend!“ bis hin zu „aufgeblasenes Dorftheater ohne Sinn und Verstand!“. Zwei andere Inszenierungen am selben Abend (Samstag) beeindruckten dafür sicherlich durch ihre Schlichtheit. Das A-Capella-Konzert der mexikanischen Sangesgruppe „Voz en Punto“ in der evangelischen Kirche war schlicht und einfach schön: Melodien, die Herz und Seele erfreuen, dazu die äußerst sympathischen Sängerinnen und Sänger, was will man mehr?
Schwieriger, dabei nicht weniger spannend war die Inszenierung von „Dans.Kias&Saskia Hölbling“ aus Österreich mit dem Titel „Corpuri de expozitie“. Auf der nackten Bühne verdrehte, krümmte und wälzte sich eine fast ebensolche Frau eine halbe Stunde lang zu nicht näher definierbaren Geräuschen aus den Lautsprechern. Manchem Zuschauer war das zu kompliziert, zu komisch, zu doof, doch wenn man mutig genug war und blieb, fing ab einem bestimmten Moment die eigene Interpretationsmaschine im Kopfe an zu arbeiten: Erleidet sie Qualen, empfindet sie Lust, womit kämpft sie oder wogegen, was macht sie da? Ein anregendes Erlebnis, das sicher das Verbleiben wert war.
Eine ganz besondere Inszenierung war eindeutig auch „Inapoi in U.R.S.S.“ des Art&Shock Theaters aus Kasachstan am Sonntag im Gong-Theater. So meinte auch einer der Gäste auf der Pressekonferenz am Tage danach, dass diese Inszenierung eine der fünf oder sechs wirklich sehenswerten aus den letzten acht Jahren sei (an dieser Stelle ein kurzes Zusammenzucken von C. Chiriac, dem langjährigen Organisator des Festivals): Drei Schulmädchen blödeln herum, dabei die verschiedenen Stationen einer typischen Jugend im Kommunismus darstellend (Eintritt bei den Pionieren, der erste BH, etc.). Begleitet wurde das Stück von russischer Musik (Folk und Pop). Eine solche Spiellust und –leidenschaft sieht man selten. Überraschend dabei, dass dies die Erstaufführung des in der Improvisation entstandenen Stückes war, wie man in der Pressekonferenz erfahren konnte. Großartiges Stück mit absoluter Lachgarantie, damit ein guter Grund, mal wieder zum Einkaufen nach Almaty zu fahren.
Am Montag spielte das vierte Studienjahr der UNATC Bukarest [keine Ahnung, wie das ausgeschrieben wird!] „Opt Femei“ im Armeehaus. Eine schwierige Aufgabe, vor allem wenn man die Verfilmung kennt, in der die Creme der französischen Schauspielerinnen mitspielt (Fanny Ardant, Catherine Deneuve, Emmanuelle Beart, Isabelle Huppert, etc.). Die Damen aus Bukarest konnten aber ebenfalls überzeugen mit ihrer Inszenierung dieser wirklich guten Geschichte über das schwache Geschlecht (haha!).
Man kann schon anhand dieses kleinen Einblicks in das Festival-Geschehen sehen, dass sich der Besuch lohnt. Neben all den Inszenierungen gibt es überdies jeden Abend Konzerte unterschiedlichster Couleur auf dem Großen Ring, natürlich mit Mici und Bier.
Schön wäre es natürlich auch gewesen, wenn mehr Stücke übertitelt oder anders in Übersetzung erlebbar wären, doch ist dies sicherlich auch den vorhandenen technischen Möglichkeiten zuzuschreiben.
Was jedoch absolut unverständlich und ärgerlich ist, dass ist die Art und Weise, wie Programmänderungen vorgenommen werden. Jeden Tag gibt es unzählige Änderungen, die nur dem Eingeweihten und selbst dem nur in Bruchstücken bekannt sind. Selbst wenn man in der privilegierten Lage ist, über Freunde und Bekannte in der Stadt zu verfügen, die rumänische Sprache zu beherrschen und regelmäßig über den Computer mit aktuellen Programmänderungen versorgt zu werden, wird man sicherlich nicht auf dem aktuellsten Stand der Dinge sein. Ein kleines Beispiel: Montag im Geschichte-Museum ist geplant um 17.30 Uhr eine russische Gruppe und um 21.30 eine deutsche. Um 16.oo Uhr erfährt man mittels E-Mail, dass die deutsche Gruppe bereits um 17.30 Uhr spielt. Fein und gut zu wissen. Wenn man dann aber um 17.20 am Tor des Geschichte-Museums liest, dass dort am Montag gar nichts gespielt wird, tja, dann wundert man sich.
Wie ergeht es einem theaterliebenden Paar aus dem nichtrumänischsprachigen Ausland, dass nur wegen des Festivals herkommt? Werden die wiederkommen, wenn sich solche Fälle wiederholen (und es gibt sie ständig)? Aus Erfahrung von anderen – und wesentlich größeren - Festivals weiß man, dass dort Programme bereits Wochen vorher erhältlich sind und auch exakt eingehalten werden. Dies soll nicht heißen, dass jede Veranstaltung auf die Minute pünktlich beginnt, doch werden Programmpunkte nicht wie Lokomotiven auf einem großen Spielzeugeisenbahn-Rangierbahnhof beliebig hin- und her geschoben. Ist das Willkür, Ignoranz, oder einfach Unfähigkeit?
So toll und großartig das Festivals auch ist, an diesem Punkt muss entschieden nachgebessert werden, sonst macht sich bald kein Gemüsehändler vom Zibinsmarkt mehr die Mühe, für eine Inszenierung hinauf in die Oberstadt zu kommen. Ganz zu schweigen von den Gästen, die einen etwas weiteren Weg hierher haben.

Die neue Nora ist in die Jahre gekommen (2004)

Es war einmal eine junge Frau, die lebte mit ihrem Mann und ihren drei Kindern zusammen in einem Haus. Weil sie durch einen kleinen Betrug vor Jahren ihrem Mann das Leben gerettet hatte, ist sie jetzt in Schwierigkeiten. Weil ihr Mann diese ihre Hilfe nicht als solche ansieht und die Ehe von Nora und ihrem Mann ohnehin eine seltsame ist und weil das Leben einer Frau in der von Männern dominierten Welt ohnehin nicht leicht ist, verlässt sie ihn schließlich. Gründe hat sie genug.
Das ist in etwa die Handlung des Stückes „Nora (Ein Puppenheim“ von Henrik Ibsen, das am vergangenen Samstag im Hermannstädter Radu Stanca Theater von dem jungen Regisseur Radu-Alexandru Nica präsentiert wurde.
Das Publikum beendete den Premierenabend mit lang anhaltendem Applaus und stehenden Ovationen und in der Tat: Es war eine kurzweilige Inszenierung, die auf intelligente Art das Publikum bei Laune hielt.
Dem Regisseur stand bei seiner teilweise formal mutigen Inszenierung ein junges und spielfreudiges Ensemble zur Seite, das durchweg überzeugte.
Der Versuch der Regie, andere Wege zu gehen, ließ sich bereits vor Beginn des Stückes ahnen. So wurde – zur Einstimmung – dem Publikum beim Einlass und vor Beginn des Stückes mittels Videoprojektion eine Umfrage zum zwischenmenschlichen Miteinander präsentiert. Das minimalistische Bühnenbild, karge klinisch-weiße Wände mit dünnen, roten Strichen (angedeutete Blutspuren?) und im Hintergrund drei schmale Ausgänge - der mittlere als einziger mit Tür, der Zugang zum Büro des Ehegatten – wies ebenfalls in diese Richtung.
Die radikale Kürzung des Textes bewirkte eine interessante Zuspitzung der im Stück angelegten Konflikte, was durch verschiedene Einfälle der Regie noch verstärkt wurde. So wurde das gesamte Stück von sich wiederholenden, musikalischen Phrasen begleitet, und auch die Popmusik erhielt ihren Raum. Und um das grundlegende Problem – die Schwierigkeiten der Kommunikation – deutlich zu machen, sprachen die Darsteller niemals zueinander, sondern immer in verschiedene Richtungen. Durch die Kürzung des Textes wurden die Personen in der Ausmalung ihrer Charaktere schablonenhaft skizziert. Der Verlust der Mehrdimensionalität war die Folge, was aber perfekt ins Konzept der Inszenierung passte.
Insgesamt führten diese Ideen und Einfälle zu einer kurzweiligen und modernen Aufführung.
Inhaltlich war diese Inszenierung jedoch leider alles andere als modern.
Wir erinnern uns noch einmal an das Stück von Ibsen (das übrigens von dem ersten deutschen Übersetzer in „Nora (Ein Puppenheim)“ umgetitelt wurde): Nora ist eine junge Frau, die ihr Schicksal in die Hand nimmt und ihren Mann verlässt, da ihr das Leben an seiner Seite unerträglich ist. Bei Ibsen verlässt Nora das Haus. So endet das Stück. In Hermannstadt verharrt Nora mit den Koffern in der Hand, als ihre Tochter in der Tür erscheint. Das Stück endet. Die Eindeutigkeit Ibsens ist aufgehoben, der Befreiungsakt der emanzipierten bzw. sich emanzipierenden Frau ebenfalls. Und überhaupt ist die hiesige Nora in keinem Augenblick die emanzipierte Frau. Sie ist vielmehr das Weibchen, das sexy durchs Haus schwebt, bei jeder Gelegenheit die Strumpfbänder aufblitzen lässt und ihren Körper genau dann einsetzt, wenn es eben opportun ist. Ist das die Rückkehr zu den alten Werten, wo die Frau sich noch um den Haushalt, die Kinder und den Hormonhaushalt des Ehemannes zu kümmern hatte? Das Ende zumindest passt hinein.
Es gibt auch noch ein anderes Problem in der Inszenierung, ein logisches: Denn eigentlich hat Nora kein Motiv mehr, ihren Mann zu verlassen. Zugegeben, es gibt ein Kommunikationsproblem zwischen Nora und ihrem Mann, der sie überdies nicht anders behandelt als ein kleines, niedliches Lustobjekt, ein Püppchen für sein Puppenheim. So war es zumindest bei Ibsen. Im Radu Stanca Theater gibt es jedoch kein spezielles Problem zwischen Nora und ihrem Mann. Alle, wirklich alle Protagonisten haben Schwierigkeiten mit der Kommunikation. Niemand spricht zum anderen von Angesicht zu Angesicht, alle sprechen irgendwohin. Alle in dieser „Puppenwelt“ kommunizieren nicht miteinander, eher gegeneinander oder nebeneinander. Puppen, Schablonen, Klischees sind überdies alle miteinander, auch Torvald, Noras Mann. Warum also sollte Nora ihn verlassen? In dieser Welt, in der nicht miteinander gesprochen wird, gibt es keinen Grund, seinen Lebenspartner wegen Kommunikationsproblemen zu verlassen. Ohnehin wirkt Nora nicht sehr überzeugt, wenn sie unbeweglich da steht und mehrmals sagt: „Ich möchte weg!“
So verlässt der Zuschauer das Theater nach einer unterhaltsamen Aufführung und kann zufrieden feststellen, dass alles in Ordnung ist: Die Frau erinnert sich im Angesicht ihres Kindes an ihre weiblichen Pflichten, und wird sich weiterhin mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln – inklusive halterloser Strümpfe – durchschlagen. Ansonsten gibt es Schwierigkeiten mit der Kommunikation, weil es aber allen so ergeht, ist es auch nicht weiter tragisch. So what?©
Lieber Regisseur: Mach’ bitte weiter so in Deinen Inszenierungen. Gib uns ein anderes, ein neues Theater, denn das ist es, was wir wollen. Doch bitte bitte versuch’ nicht, uns hinterrücks die Werte der Altvorderen wieder einzutrichtern. Und mache nicht aus einem modernen Stück den Lobgesang auf alte Werte, denn das brauchen wir ganz bestimmt nicht!

Die Reaktion auf Herrn Leonida

Tja, ein schwieriges Unterfangen, das dem Rezensenten da auferlegt wurde. Es gilt, eine Kritik zu verfertigen über ein kurzes Theaterstück, von dem er fast nichts weiß. Er kennt: Die zu besprechende Inszenierung der übersetzten Fassung und Randinformationen des Programmheftes. Das wahre Problem aber liegt jenseits davon. Die überwiegende Mehrheit der Leserschaft dieser Zeitung nämlich kennt das Stück in der Originalfassung und womöglich auch in diversen Inszenierungen, vom Theater oder aus dem Fernsehen.
Es gilt nun also, aus der Not eine Tugend und aus dem leeren Blatt eine passable Besprechung zu machen.
„Herr Leonida und die Reaktion“ in der Inszenierung von McRanin, die am 19.03.2002 an der Deutschen Abteilung des Radu-Stanca-Theaters Hermannstadt aufgeführt wurde, war mit gewisser Spannung erwartet worden, da es von allen Seiten tönte, dieses Stück, wie überhaupt alle Stücke von Ion Luca Caragiale, seien nicht übersetzbar. Der eigentliche Witz und Reiz in Caragiales Werken liege so tief im Sprachlichen verwurzelt, dass ein sprachlicher Transfer nur unter Preisgabe der vielfältigen Nuancen des Originals möglich sei. Die Information darüber, wer sich an die Übersetzung des inszenierten Stückes gewagt hat, bleibt uns das Programmheft schuldig. Und ob diese als ge- oder misslungen zu bezeichnen ist, darüber wird vorliegende Besprechung schweigen (müssen).
Die Hermannstädter Inszenierung selbst aber bot einen facettenreichen Einblick in die Tiefen des ganz gewöhnlichen, dabei unglaublich bizarren bürgerlichen Surrealismus oder surrealistischen Bürgertums. Das an expressionistische Stummfilme erinnernde Bühnenbild (für das auch der Regisseur verantwortlich zeichnet) stellt schwarz-weiß stilisiert ein Schlafzimmer mit kühn geschwungenem Mobiliar dar. Zu Spieluhrklängen und in kaltem Licht erscheinen die beiden Hauptpersonen, Herr Leonida und seine Gattin Efimitza (Georg Potzolli und Renate Müller-Nica). Nachtwäsche tragend und grell überzeichnet geschminkt führen die zwei einen Reigen auf, wie man ihn von Glockenspielfiguren oder Aufziehpuppen kennt: Abgehackte, roboterartige, wie ferngesteuerte Bewegungen, ohne jeglichen Eigenantrieb und ohne erkennbare Motivation. Im sich anschließenden Gespräch entlarven sich die beiden als typisch halbgebildete Bürger, wobei – geschlechterrollenadäquat – Mitzi als die Dumme, Fragende und Leonida der Belesene, Informierte und damit Auskunftgebende erscheint. Das es um Leonidas Wissen auch nicht zum Besten bestellt ist, wird im Gespräch deutlich, da er häufig mit klugen - sogar ausländischen - Wendungen annähernd nichts zu sagen in der Lage ist, wenn er sich nicht selbst widerspricht. Das Paar wechselt vom Tisch in die Betten und wird von Lärm aufgeschreckt, den der kluge Leonida als Anzeichen für den Ausbruch der Revolution und sich somit als gefährdet erklärt. Die Sorge verwandelt sich in Panik, als Safta, die Magd (Monika Dandlinger), an der Tür klopft. Nachdem Mitzi die Angst überwunden, die Magd als diese erkannt und ihr die Tür geöffnet hat, erklärt Safta den Lärm mit dem Faschingstreiben auf der Straße. Die Automatenmusik vom Anfang des Stückes hebt an, Safta zieht ihre Herrschaften wie zwei Spieluhren auf und diese beginnen erneut mit ihrem Reigen, von Safta mit schallendem Gelächter beobachtet.
Auch nach Ende des Stückes marschieren die beiden Hauptdarsteller noch wie Maschinenmenschen über die Bühne und verneigen sich mechanisch vor einem begeisterten Premierenpublikum.
Mit diesem Stück präsentierte die Deutsche Abteilung des Radu-Stanca-Theaters einen wohl zeitlosen Ausflug nach Absurdistan, hinein in die Welt der Neunmalklugen, Halbgebildeten und um ihr eigenes Wohl Ach-so-Besorgten. Durch die surreal anmutende Inszenierung kann das Stück trotz der historisch scheinenden Bezüge in den Dialogen – wenn da die Rede ist von der Revolution, von Garibaldi bzw. „Galibardi“ etc. – immer auf seine aktuelle Relevanz gerade in seiner Zeitlosigkeit gelesen werden, was sicher den Reiz dieses Stückes und gerade auch der speziellen Inszenierung in Hermannstadt ausmacht.
Und auch ein Unwissender, der rumänischen Kultur in seiner naiven Unschuld geradezu als Banause Gegenüberstehender, als welcher sich der Rezensent zuweilen fühlt, geht an diesem Abend mit dem Gefühl nach Hause, „eben doch“ etwas verstanden und den Abend durchaus genossen zu haben. Beim flüchtigen Austausch nach dem Stück an der Garderobe und im Foyer überkam den Rezensenten jedoch mehrfach das Gefühl, als habe er die Inszenierung nicht „trotzdem“ genossen, sondern womöglich auch „gerade weil...“!

Über die Last des Lebens, oder: Der Kontrabass (2001)

Schon komisch, wenn man längere Zeit im halb abgedunkelten Zuschauerraum eines Theaters sitzt und nichts passiert. Man sitzt da und sinniert vor sich hin: Ob wohl vergessen wurde, das Licht vollständig zu löschen; ob jemand es rechtzeitig bemerken wird, oder ob man vielleicht selber...? Doch halt, ist dies nicht ein modernes Theaterstück? Aber ja, klar! Obendrein ein Einpersonenstück, typisch, und der Autor hat doch diesen Roman geschrieben, mit dem er unglaublichen Erfolg hatte und wohl immer noch hat, worauf man dann dieses Stück von ihm wieder ausgegraben hat und es ein großer Bühnenerfolg wurde. Ansonsten weiß man fast gar nichts über ihn, weil er zurückgezogen irgendwo in Frankreich leben soll, angeblich. Na ja, da kann es schon mal sein, dass man vergisst, das Licht zu löschen und dann so tut, als sei es richtig so!
Während man so vor sich hinsinnt, derweil ringsum die Stille wieder in leises Gemurmel übergegangen ist, betritt ein Mann mit lautem Geklirr aus den Tiefen der Plastiktüte in seiner Hand den Zuschauerraum, wünscht eiligen Schrittes einen guten Abend und... betritt die Bühne.
So recht wussten die Zuschauer nicht, was sie davon halten sollten, als ebendieses Dienstagabend im Hermannstädter „Radu Stanca“-Theater geschah. Einige erwiderten den Gruß, andere begannen zaghaft zu applaudieren, wieder andere verhielten sich unauffällig und machten so einen abgeklärten, kulturerfahrenen Eindruck.
Jener Herr aber hatte inzwischen von der Bühne Besitz ergriffen, die klirrende Tüte - die, wie sich noch herausstellen wird, voll Bierflaschen ist - abgestellt, sich vor dem Publikum verneigt (hat er? oder hat er sich vielmehr in seiner Rolle vor einem fiktiven Publikum verneigt?) und zu erzählen begonnen. Er sei Kontrabassist und sein Instrument ein ganz besonderes. Dieses sein Instrument im allgemeinen und sein Verhältnis dazu im einzelnen wird dann auch Thema des Abends sein. Man darf sich die Vorstellung nun aber nicht als eine Einführung in die Instrumentenkunde, Kapitel Kontrabass, vorstellen, mitnichten. Der Mensch auf der Bühne, ein Mittfünfziger mit Hang zur Gemütlichkeit um die Hüfte herum, ist von Beruf Orchestermusiker bei der Staatsoper, damit Beamter, ein Künstler mit Tarifvertrag also, was für sein Verhältnis zur Musik nicht unwichtig ist. Dieses sein sehr spezielles Verhältnis zur Musik und zu seinem Kontrabass ist äußerst ambivalent, man kann wohl sagen, dass ihn eine Hassliebe mit seinem Instrument verbindet. Wie er im Laufe des Abends sowohl real wie verbal um sein Instrument herumschleicht, dabei eine große Menge Alkohol zu sich nimmt („der Flüssigkeitsverlust, Sie verstehen!“), was die Stringenz seiner Erzählung nicht gerade befördert, dabei über unterschiedlichste Themen fabuliert, um schließlich wieder und wieder zu seinem Kontrabass zurückzukehren (der ja unübersehbar auf der Bühne steht), das ist schon toll anzusehen und -hören. Dabei werden alle emotionalen Register gezogen, vom albernen Schenkelklopfer bis zum leisen mitfühlenden Schluchzer wird dem Zuschauer alles abverlangt.
Was Wolfgang Wolter (München) dem Publikum präsentierte, war sicherlich eine Meisterleistung. Er hat das Stück von Patrick Süskind seit 1987 im Repertoire und man merkt Wolter die Erfahrung positiv an. Jede Nuance im Stück ist wohlgesetzt und jede Bewegung, jedes Gefühl überzeugend akzentuiert. Gefühle hat er ja eine Menge, dieser Kontrabassist, der sich wegen seines Instruments als das Letzte im Orchester sieht und auch sonst allerlei Leid zu ertragen hat („Der Kontrabass ist kein Instrument, sondern ein Hindernis“). Er stört eigentlich immer und bei allem, bei Ausflügen wie beim Sex. Außerdem verhindert er sogar, dass ihn die Sängerin seines Herzens überhaupt bemerkt.
So sinniert der Musiker während einer kleinen kalten Mahlzeit und vor einer Opernpremiere in der Staatsoper („Karten bis zu 650,-DM, lächerlich!“) über die Niederungen seiner Kontrabassisten-Existenz und kommt schließlich auf eine anarchistische Idee, die ihm die Aufmerksamkeit von Sarah, der Sängerin sichern, dafür aber die Sicherheit seiner beruflichen Position sehr wahrscheinlich beenden wird: Während der Aufführung laut ihren Namen zu brüllen. Die Idee fasziniert ihn und während er hinten von der Bühne ab- und dem Konzert zugeht, ruft er mehrfach begeistert „Sarah!“. Ob er seinen Plan in die Wirklichkeit umgesetzt hat, wir wissen es nicht. Genau wissen wir aber, dass wir Zuschauer einen äußerst unterhaltsamen Theaterabend und ein Wechselbad der Gefühle (inklusive Neid ob des Drogenmissbrauchs mittels Bergenbier und diverser Tabakwaren auf der Bühne) erlebten, was uns am Ende begeisterte, spitze Schreie ausstoßen ließ.

Ein flotter Abend mit viel Liebe, nackter Haut und Affären (und trotzdem kam niemand zu Schaden) (2001)

Die diesjährige Spielzeit der deutschen Abteilung des Hermannstädter „Radu Stanca“-Theaters wurde am 2. Oktober mit einer ungewohnt leichtfüßigen und rasanten Inszenierung eingeläutet. Gespielt wurde Dario Fos Einakter „Der Dieb, der nicht zu Schaden kam“. Dario Fo ist als Dramaturg kein Unbekannter (Literaturnobelpreis 1997), mir persönlich in (nicht immer guter) Erinnerung mit zwei Merkmalen: Einmal das immer präsente sozialkritische Element und sein manchmal wunderliches Verständnis von Humor (das ansonsten vorwiegend in italienischen Komödien der 70er Jahre begegnet). Ich zumindest kann mir gut das Schenkelklopfen verkneifen, wenn sich auf der Bühne der Kopf gestoßen oder das Sitzmöbel verpasst wird. Natürlich kann man dies als typische Elemente der Commedia dell’arte bezeichnen, lustiger wird es damit aber nicht.
Die junge Regisseurin Alexandra Gandi wählte jedoch einen anderen Weg, indem sie den Frontalangriff inszenierte und so den Vorwurf der Albernheit ins Leere laufen lässt. Wenn der Hausherr z.B. seine Geliebte kurz fragt: „Piccolo?“ und sie ihm antwortet: „Piccolo!“, was mehrfach wiederholt wird um in eines der wohlbekannten italienischen Poplieder („Piccolo amore“) zu münden, dann muss man neidlos zugestehen, dass es auf eine seltsame Art unglaublich doof und zugleich wiederum auch sehr lustig ist. Es gibt einige Gesangseinlagen in dem Stück, die alle nach dem beschriebenen Muster funktionieren und dem ganzen Abend eine leichte, verspielte, manchmal alberne, insgesamt aber äußerst unterhaltsame Nuance (wie sich an den Reaktionen des Publikums zeigte) verleihen. Das bunte Bühnenbild mit den aufblasbaren transparenten Sitzgelegenheiten unterstreicht dabei die verspielte Leichtigkeit der ganzen Inszenierung. Die Handlung des Stückes ist die einer typischen Verwechslungskomödie im Boulevardtheaterstil, d.h. mit Situationskomik, leichten Anzüglichkeiten und Lügengeschichten, insgesamt gut vorhersehbar, so dass man sich voll auf das situative Spielen der Darsteller konzentrieren kann ohne Gefahr zu laufen, dem Handlungsverlauf nicht mehr folgen zu können:
Ein Dieb (Franz Kattesch) bricht nachts in eine Wohnung ein, nicht ohne seiner Frau vorher genau die Adresse geben zu haben. Diese (Monika Dandlinger) ruft natürlich an (in der Inszenierung großartig gelöst durch eine Ecke der Wohnzimmerkulisse, die als dunkles Seitenfenster fungiert und beim Telefongespräch schwach erleuchtet die Ehefrau zeigt), worauf sich die üblichen Eheleute-Streitgespräche ergeben. Der Dieb wird vom Hausherrn (Georg Potzolli) und seiner Geliebten (Johanna Adam) gestört, kann sich aber in der Standuhr verstecken, wo er dann das weitere Geschehen beobachtet, bis er schließlich entdeckt wird.
Später wird die Ehefrau des Diebes noch einmal anrufen und weitere Personen werden hinzukommen: Maria (Renate Müller-Nica) und Antonio (Roger Parvu), deren Funktion hier nicht verraten sei (es versteht sich aber von selbst, dass auch diese Figuren verheiratet sind und eine Affäre haben). Wie gesagt, nichts Neues und niemand hatte wohl im Theater den Eindruck, dass die Regisseurin dem Publikum etwas Nachdenkenswertes oder gar Lebenswichtiges mitteilen wollte, außer vielleicht: „Die Deutsche Abteilung des Radu-Stanca Theaters ist wieder da und will – verdammt nochmal - unterhalten!“ Dieser Wunsch ist jedenfalls in Erfüllung gegangen, gelangweilt hat sich sicher niemand, und viel zu schnell war dann alles vorbei. Die Schlusspointe war vielleicht etwas lahm, der Applaus für die glanzvolle Leistung des Hermannstädter Ensembles unter der Leitung Alexandra Gandis dann jedoch wohlverdient stürmisch und anhaltend.

Schabernack mit fremden Zungen (2001)

Viele Menschen wissen sicherlich, daß der letzte Samstag der Tag des Heiligen Pankratius war. So etwas weiß man eben, warum auch immer. Die meisten aber werden neulich nicht mitbekommen haben, daß der Welttag des Buches stattfand (wann war das noch?). Für die aufmerksamen und interessierten Zeitgenossen nun aber die 1-Millionen-Lei-Frage: Wie heißt denn eigentlich das Jahr, in dem wir uns gerade befinden? Für die Ignoranten oder Nicht-ganz-so-gut-Informierten hier die Antwort: 2001 ist das „Europäische Fremdsprachenjahr“! Gewußt? Bravo! Manche Menschen aber wissen nicht nur davon, sondern tun auch etwas dafür. Wie z.B. eine Gruppe von Studierenden der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt unter der Anleitung von Sunhild Galter und Liane Junesch. Zurückgehend auf eine Idee von Prof. Dr. Horst Schuller, dem Leiter des Lehrstuhls für Germanistik und unter der Regie von Frau Lilli Krauss-Kalmar inszenierte eine Gruppe von insgesamt 12 Studierenden einen Ausschnitt aus Wilhelm Buschs „Max und Moritz“, dies aber nicht einfach so, sondern polyglott, mit anderen Worten acht-(in Zahlen 8-)sprachig! Im Spiegelsaal des Deutschen Forums in Hermannstadt führten sie am Donnerstag, dem 10. Mai, den ersten Streich des bekannten Kinderbuches auf (Zur Erinnerung: Das ist der Streich mit Witwe Bolte, langen Hälsen und bangen Gesängen!). Aber wie kann man sich das vorstellen? Mit genau dieser Frage im Kopf saßen auch wir Zuschauer auf unseren Stühlen und warteten auf des Rätsels Lösung. Zuvor allerdings trugen Studentinnen des 3. Studienjahres LMA Gedichte zum Thema Sprachen/Fremdsprachen vor („Aphasie“, „Esperanto“ etc.).
Doch dann begann das Spektakel: Acht junge Menschen (sieben davon weiblich) betraten den Saal und anschließend die Bühne, deren Hintergrund mit einem weißen Tuch abgetrennt blieb. Dabei waren sie aufgrund ihrer Kleidung relativ leicht zu erkennen als: Sächsin, Französin, Deutsche, Spanierin, Engländer, Rumänin, Italienerin und Ungarin. Sie gruppierten sich um das weiße Tuch und begannen, eine nach der anderen (und dazwischen auch der englische Gentleman) die einleitenden Worte von Max und Moritz zu rezitieren. Dabei wurden sie von landestypischer Musik begleitet. Jetzt ahnte man auch bereits, welche Rolle das Laken im Hintergrund spielte: Es diente als Leinwand zur Projektion einzelner Bilder aus dem Buch von Wilhelm Busch. Während das freche Treiben der beiden Buben seinen Lauf nahm, immer kommentiert in den acht auf der Bühne repräsentierten Sprachen, eröffnete sich dem Publikum aber noch eine weitere Dimension des weißen Tuchs: In der Art des Schattenspiels agierten zwei Schauspieler (die sich nach dem Stück als –innen offenbarten) als Max und Moritz pantomimisch hinter der Leinwand und stellten so dar, was währenddessen achtsprachig beschrieben wurde. Der Eindruck war überzeugend und faszinierend zugleich. So mancher Zuschauer schien zwar hin und wieder seine Zweifel an dem ganzen Unterfangen zu haben, so eine ca. Neunjährige, die mehrmals irritiert in den Raum fragte: „Ce limbă vorbesc ăia?“ Für all die anderen aber war der Abend ein großer Spaß. Zum einen die schauspielerischen Leistungen hinter und auf der Bühne, denn auch die acht Rezitatoren standen und saßen nicht nur da, in fremde Kleidung gezwängt und sprachen in fremden Zungen. Nein, auch sie agierten so landestypisch, wie es möglich war: Die Französin, nonchalant einen Fächer bewegend, die Spanierin, leidenschaftlich ihre Strähnen aus dem Gesicht streichend, die Italienerin mit den Händen in den Hüften und der Engländer, na ja, britisch eben. Wunderbar, das Schauspiel zu betrachten. Zum andern war da aber noch die sprachliche Seite und das Erstaunen, das es provozieren kann, wenn man denselben Text nacheinander in unterschiedlichen Sprachen hört, von denen – wahrscheinlich – keiner der Zuschauer alle beherrschte. So wurden der Intellekt wie auch die Sinne an diesem Abend von allen Seiten gehörig gekitzelt.
Für all diejenigen unter den Lesern, die jenes babylonische Spektakel nicht genießen konnten, gibt es aber einen Trost: Das Europäische Fremdsprachenjahr 2001 dauert einschließlich bis zum 31.12.2001. Jetzt sind Sie dran!

Man spielte den Clavigo ... (2001)

„Man spielte den Clavigo (...). So vortrefflich war die Rollenbesetzung in diesem Stück bis auf die unbedeutendsten Nebenrollen. – Reiser kannte alle diese vortrefflichen Schauspieler – war es wohl zu verwundern, daß seine Erwartung auf das höchste gespannt wurde, aufs neue die Vorstellung eines Stücks von ihnen zu sehen (...)?“ (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser). Genau so erging es uns und also warteten wir mit dem Kopf voller Gedanken, dem Herz voller Erwartungen vor dem Musentempel, dessen frisch renovierte Fassade man uns ausgiebig genießen ließ, bis zum Einlaß zur Teilnahme an einem weiteren Kapitel deutscher Kultur in Rumänien, deutsches Theater in Hermannstadt.
Wie es sich für den Bildungsbürger geziemt, hatte man vorher einen Blick in den Schauspielführer bzw. in ein Goethe-Buch geworfen, war also informiert, daß ein Trauerspiel auf dem Programm stand, eine Tragödie ohne „Bösewichter“. Man wußte auch, daß dieses Stück zwar zu Goethes meistgespielten, aber nicht unbedingt zu seinen besten gehört („dichterisch etwas trocken und kalt“; „Mangel an Atmosphäre“; W. Kayser). Die Handlung, na ja, Streit auf Leben und Tod wegen der verlorenen oder doch zumindest als zutiefst beleidigt angesehenen Ehre eines Mädchens, business as usual eben. Der Bruder aus Frankreich eilt auf einen Brief herbei (i.e. nach Spanien), bedroht den ehemaligen Gatten in spe (den Titelheld), sein Versprechen wahrzumachen oder wahlweise größte Schmach oder den Tod zu erleiden, dieser gibt nach und dann wieder doch nicht, die Verratene/Betrogene/Enttäuschte stirbt (aus Verzweiflung und schwachem Herzen), Clavigo erkennt seinen Fehler und läßt sich am Sarge seiner (Ex-)Geliebten von ihrem Bruder tödlich durchbohren, dabei im Sterben diesem dankend. Mit anderen Worten: Eine absurde Geschichte, die dem heutigen Publikum genau soviel zu sagen hat, wie die meisten anderen dramatischen Texte, die auch heute noch zur Pflichtlektüre an den Gymnasien und Universitäten gehören. Der Abend hätte also gut zu einem Trauerspiel werden können, zu einer ernsten und sterbenslangweiligen Angelegenheit.
Zum Glück aber hatten die Verantwortlich dazu keine Lust. Vielmehr ließen sie sich inspirieren von dem Stück und seiner Zeit: Die Perücken und Kleidungsstücke, die affektierte Redeweise, jene unnachahmliche Art des Dahinschreitens. Das Ergebnis war extrem kurzweilig. Man schwadronierte lustig drauflos, spitzbübelte sich von Szene zu Szene und ließ keine Plattitüde ungenutzt davonkommen. Wer Schauspieler mal so richtig schauspielern sehen wollte, der war hier richtig. Da wurde gestöhnt und sinniert, gejammert und geschrien, gegackert und gequiekt. Augen wurden gerollt und Zähne geknirscht, Degen gezogen und großkalibrige Blasinstrumente mißhandelt, daß es eine helle Freude war.
Franz „Clavigo“ Kattesch konnte seine Kobolde frei auf der Schulter tragen und schelmisch vor sich hin deklamieren, so daß jeder Satz seine eigene Verneinung implizierte. Wolfgang „Carlos“ Ernst, von Goethe mit gesellschaftsrelevanter Vernunft ausgestattet, hatte seine liebe Mühe, kühlen Kopf zu bewahren, während seine kokette Bedienstete Irina Deak ihn im Rollstuhl über die Bühne und ihm manchmal auch mit der Hand unter die Weste fuhr. Monika „Sophie“ Dandlinger, die ältere Schwester Mariens, mit ihrem infantilen, immer im falschen Moment Tuba blasenden Ehegatten Roger „Guilbert“ Părvu, die wahrscheinlich seriöseste auf der Bühne, wägte ab und gab Ratschläge. Ruth „Marie“ Köhler, ein hinreißend schrecklich affektiertes Ding, die für sich verbuchen kann, wahrscheinlich den ersten verbalen Orgasmus auf die Hermannstädter Bühnenbretter gebracht zu haben, was dann allerdings auch ihre letzten mehr oder minder artikulierten Laute sind (später heißt es von Sophie an Clavigo: „Ihr letztes Wort war dein unglücklicher Name“). Und Georg „Beaumarchais“ Potzolli, als der Lebe- und wohl auch Edelmann, der er ist, weiß eigentlich gar nicht so genau, was um ihn herum geschieht, findet aber schnell Gefallen an dem blutigen Spiel und seiner Rolle als Retter der Entehrten und natürlich daran, seinen Degen blitzen zu lassen und dramatische Sätze von sich zu geben (allerdings dabei gewaltig mit den Augen zwinkernd, innerlich).
Einen Glückwunsch an das Ensemble, einen Dank an die Regie von Mc Ranin und Renate Müller-Nica für den Mut, ein altvertrautes Stück von IHM gegen den Strich gebürstet und etwas ganz anderes daraus gemacht zu haben. Auch wenn das kritische Auge das eine oder andere finden mag, was vielleicht nicht ganz stimmig ist (warum muß Clavigo doch noch sterben? Denn den Sinneswandel nimmt man ihm in der gekürzten Version nicht ab, damit auch nicht sein Opfer aus Liebe), auch wenn so mancher Miesepeter sich darüber beschweren mag, daß ein Trauerspiel nicht lustig sein soll, Danke noch einmal dafür, daß ihr uns nicht den Abend vergällt, sondern uns auf das Angenehmste vergnügt habt!

Große Gefühle in Hermannstadt (2000)

Am 12.04.2000 ereignete sich großes Theater in Hermannstadt. Die Deutsche Abteilung des Hermannstädter „Radu Stanca“-Theaters führte ihr neues Stück, „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller, auf und, so muß man ehrlich sagen, sie tat dies überzeugend. Die Bühne war raffiniert mit Tuch verhängt, das in der Mitte einen weit nach hinten verlaufenden Gang freiließ, zu dessen Seiten sich Zugänge befanden. Der Stoff war mit grobem Pinsel mehrfarbig dunkel gestrichelt und in der Bühnenmitte, deren Boden auch von Tuch bedeckt war, fanden sich die Farbflecken zu einem Kreis. Durch die Farben und die Linienführung wurde bereits vor Beginn des Stückes durch das von Mc. Ranin gestaltete Bühnenbild ein Vorgeschmack auf das vor Emotion und Leidenschaft prall gefüllte Stück gegeben. Mitten in diesem Fegefeuer aus Farben und Linien dann vier metallene Sitzmöbel, ein ebenfalls metallener Kerzenständer und ein kleiner Tisch. Damit steht das Setting, gesellschaftliche Konventionen mitten im Auge des Orkans und die Frage nach den Gewinnern und den Verlierern. Und auch die Hermannstädter Akteure konnten nur die Antwort geben, die ihnen Schiller in den Mund gelegt hat, es stirbt die Leidenschaft und Emotion, es obsiegt Intrige und gesellschaftliches Kalkül. Das Sterben, das geschah aber wahrlich wunderschön, neulich auf der Hermannstädter Bühne. Die Zeit vom Einnehmen des Gifttranks bis zur endgültigen Todesstarre waren die leidenschaftlichsten Momente, die ich je auf dieser Bühne gesehen habe und hätte sie fünf Minuten länger gedauert, dann wäre so mancher Theaterbesucher atemlos lauschend mit blauem Kopf Ferdinand und Luise in den Tod gefolgt. Franz Kattesch als der leidenschaftlich verliebte Jungsporn, der sich spontan über die gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit hinwegsetzt, hinwegsetzen will, aber sich dann doch schwertut, seinem mächtigen Präsidenten-Vater Paroli zu bieten und bei der Verhaftung von Luises Vater mehr schlecht als recht zu seiner Liebe steht und der schließlich keinen Ausweg mehr aus dem Dilemma sieht, als sich und Luise auf eine wenig männliche Art zu töten (Vergiften ist angeblich keine von Männern bevorzugte Todesart). Und auch die Luise Miller wird überzeugend auf die Bühne gebracht. Ruth Köhler in ihrer ersten und hoffentlich nicht letzten Rolle in Hermannstadt spielt die Tochter des Stadtmusikanten Miller nuancenreich. Wenn sie über die Bühne hüpft und mit ihrem Geliebten scherzt und kost, dann ist sie zwar zunächst jung und naiv und unwissend, dennoch scheint sie doch immer schon auch Böses zu ahnen und im Bewußtsein zu leben, daß sie als junges Mädchen nicht viel mehr ist, als ein Spielball der Mächtigen. Zwar versucht sie mit ihrem Besuch bei Lady Milford gegenzuwirken, muß aber letztendlich an der geballten Macht der Gesellschaft scheitern. Scheitern an der Gesellschaft, scheitern aber auch an dem intriganten Spiel, das einer wie Wurm als Sekretär des Präsidenten virtuos beherrscht. Georg Potzolli gibt den aalglatten, raffiniert agierenden Hofintriganten beeindruckend. Wenn Wurm sein Interesse an Luise ausdrückt fragt man sich, was will so ein Fiesling mit so einem netten Mädchen?
Die drei genannten Darsteller spielten alle mit offenem Visier und, von Wurm abgesehen, mit offenen Karten und lieferten ein beachtliches Zeugnis ihrer Schauspielkunst.
Die übrigen spielten sozusagen unter erschwerten Bedingungen und maskiert. Alle anderen Darsteller trugen Schaumstoffmasken mit überdimensionierten verzerrten Gesichtern auf ihren Köpfen, was ihre Ausdruckskunst auf Intonation und Gestik beschränkte. Solch eine dramaturgische Idee stellt natürlich immer ein gewisses Risiko dar, zum einen, weil solch ein Mittel wie ein Vorschlaghammer die feineren Nuancen einer Inszenierung erschlagen kann, zum andern weil den Masken tragenden Schauspielern nur noch begrenzt darstellerische Möglichkeiten bleiben. Es war aber beachtlich, was die Hermannstädter Schauspielkünstler daraus machten, denn die Art und Weise, wie sie spielten ließ manchmal vergessen, daß sie Masken trugen (und als sie nach anderthalb Stunden die Masken vom Gesicht nahmen waren ihre Köpfe so geschwollen und rot angelaufen, daß sie ihren Masken ähnlicher sah, als ihnen lieb war!). Und schließlich unterstreicht diese Aufteilung des Ensembles in zwei Gruppen den Unterschied zwischen den einzelnen Rollen: Die Maskenträger als die Repräsentanten des gesellschaftlichen Spiels namens Konvention, der eine mehr, der andere weniger, aber alle gefangen in den sozialen Rollen und Aufgaben, die sie vertreten. Und die andere Gruppe der „Nicht-Maskenträger“ als die Personen, die zwar auch in ihrem Tun eingeschränkt sind, die aber mehr als nur Rollen- und Pflichtverhalten kennen, sondern auch auf ihr Gefühl achten und eigenständig Entscheidungen fällen (selbst Wurm).
Die faszinierende Häßlichkeit der grotesk verzerrten Gesichter wird den Zuschauern sicher im Gedächtnis bleiben. Ich bin aber überzeugt davon, daß dies nicht das Einzige ist.

War da was? Oder: Neulich bei einer Premiere (2000)

Die der deutschen Zunge mächtigen Kulturfreunde Hermannstadts folgten letzten Donnerstag wie immer zahlreich dem Premieren-Ruf ins Radu-Stanca-Theater. Auf dem Programm stand ein Stück von Matei Visniec, „Clown gesucht“ und bereits die Einladung auf Hartpappe im Mehrfarbdruck kündete davon, daß sich einiges verändert hat. Das Foyer des Theaters machte dann einen geradezu kuscheligen Eindruck mit seinen niedrighängenden Tüchern und gepolsterten weißen Wänden. Sehr schön. Das Grüßen von Bekannten während des Wartens auf den Vorstellungsbeginn versetzte den Theaterbesucher ebenfalls in eine positiv-empathische Grundhaltung gegenüber dem, was der Abend noch zu bieten hatte.
„Clown gesucht“, das klang vielversprechend, klang nach Kinderstück oder zumindest nach etwas Humorvoll-Melancholischem, wahrscheinlich angesiedelt im Zirkus-Milieu, was sich beim Betreten des Zuschauerraums auch bestätigen sollte, da man sich als Zuschauer verwandelt sah in einen Zirkusbesucher, der am Rande der Manege, die hier mit bunten Schaumstoffelementen abgetrennt war, Platz nimmt. Konkretere Erwartungen hatte man für das Stück nicht mitgebracht, schließlich wußten vorher viele doch eher wenig über Autor und Stück zu berichten. Was erhoffte man sich also vom Besuch des Hermannstädter Musentempels? Vielleicht einmal etwas ganz anderes, vielleicht sogar einmal etwas.....Unterhaltsames? Die Voraussetzungen zumindest waren gegeben, das Theater empfing seine Besucher freundlich und mit offenen Armen und die Zuschauer waren bereit, sich auf die Kultur einzulassen, die sich ihnen darbieten würde. Nur das Stück, ach, das Stück meinte es (wieder einmal) nicht gut mit den Kulturfreunden. Blindlings scheint man hier das Talent zu besitzen, zielsicher die Stücke aus dem Hut aller zur Verfügung stehenden Theaterstücke zu ziehen, die mit nervenzerrüttender Beharrlichkeit so tun, als würden sie von wichtigen Dingen handeln. Dabei leider handeln sie nur davon, wie man eine kleine Schar von Schauspielern beliebig lange mit Belanglosigkeiten auf der Bühne hin- und hertreibt und sie dabei Worte und Sätze sprechen läßt, die wenig mehr als nichts bedeuten. Muß denn Theater so sein? Ich dachte immer, es sei eine (binnen)deutsche Überzeugung, daß Kultur und Kunst nur dann so genannt werden dürfen, wenn sie nicht unterhaltsam sind.
Keine Frage, es war schön, mal wieder im Theater gewesen zu sein. Es war auch schön, wieder einmal den Stimmen und den Künsten von Georg Potzolli, Wolfgang Ernst und natürlich Franz Kattesch huldigen zu dürfen. Gleichzeitig aber war es auch wieder schrecklich, einem unmotivierten, überflüssigen Stück beiwohnen zu müssen, das insgesamt ungefähr achteinhalb Stunden dauerte (habe nicht auf die Uhr geschaut).
Ach ja, wovon das Stück handelte: Erst ein, dann zwei, schließlich drei Clowns, die sich alle von früher kennen und nicht mehr die jüngsten sind, warten in der Manege eines Zirkus unter dem Aushang: „Alter Clown gesucht“. Während sie warten, machen sie sich gegenseitig schlecht. Wenn sie sich an die Vergangenheit erinnern, dann bewegt sich jedesmal eine von zwei verkleideten weiblichen Person, die eine singend, die andere schreitend, durch die Manege, um dann wieder zu verschwinden.
Und irgendwann war das Stück dann vorbei. Warum das Stück zu Ende war, ich weiß es nicht mehr, kann mich nur noch daran erinnern, daß es während der Vorstellung draußen geregnet hat, was der dramatische Höhepunkt des Abends war.

Sie sitzen also immer noch ... (1999)

... in ihrem Keller und leiden, die beiden in Hermannstadt wohlbekannten Herren mit den seltsamen „Namen“ AA und XX. Wenn sie auch erst 1975 in Paris das Licht der Welt erblickten, sind sie doch seitdem bereits das dritte Mal in Hermannstadt am Theater zu sehen. Eine gewisse Affinität scheint also zu herrschen zwischen dem hiesigen Theater und den beiden Emigranten aus dem gleichnamigen Stück des polnischen Schriftstellers/Dramatikers Slawomir Mrozek, die auch heute noch mit ihrem Schicksal in der Fremde hadern, wie sie es schon 1992 und 1983 taten. Der Rezensent sieht sich also mit hervorragenden Bedingungen konfrontiert, das Wechselspiel zwischen Gegenwartstheater und gesellschaftlichen Zuständen und Veränderungen in einer geradezu laborähnlichen Versuchsanordnung zu beschreiben in der Art: ‚Rezeptionsweisen eines politischen Gegenwartsdramas in drei Phasen gesellschaftlicher Ordnung, nämlich zur Zeit des etablierten sozialistischen Totalitarismus, in der Übergangsgesellschaft und in der Gegenwart‘. All das will und wird die vorliegende Rezension nicht leisten aus unterschiedlichen Gründen. Wer dabei war, der soll es selbst tun, wer nicht dabei war, der möge über die gegenwärtige Inszenierung lesen und sich eigene Gedanken machen.
Während der Zuschauer im Theaterfoyer auf den Einlaß wartet dringt plötzlich gellender Sirenenlärm ins Theater. Noch überlegend, ob die Sirenen von draußen kommen oder schon Beginn der Vorstellung sind, wird man in den Theatersaal hinein und über die Bühne hinweg in einen großen, mit schwarzen Tüchern verhängten Raum geführt, der sich hinter der eigentlichen Bühne befindet. Auf der Suche nach einem freien Platz bemerkt man einen unrasierten Mann, der, den Kopf in die Hand stützend, an einem schäbigen Tisch vor der Zuschauertribüne sitzt. Als Tischdecke dient eine ausgebreitete Zeitung. Darüber hängt eine Lampe, d.h. ein Kabel mit Glühbirne und einem aus Papier improvisierten Lampenschirm. Weitere Elemente des Raumes sind zwei einfache Betten und ein Spind. Im Hintergrund eine Tür, die mit ausgerissenen Nacktfotos dekoriert ist, daneben ein Kleiderständer. Dominiert wird die Spielfläche von Rohren, die an der Rückwand des Raumes verlaufen. Dieser von Tristesse geprägte Raum wird für die folgenden zwei Stunden Schauplatz der Auseinandersetzung der beiden Protagonisten sein, die vorwiegend vom Tisch und vom Bett aus agieren. Der eine, AA, überzeugend gespielt von Georg Potzolli, sitzt zu Spielbeginn bereits am Tisch. Im Bademantel und mit Pantoffeln bekleidet umgibt ihn eine große Lethargie, die durch seine Haltung am Tisch und kurz danach im Bett noch verstärkt wird. Wie sich im Verlaufe des Stückes herausstellt ist er „der“ Intellektuelle, womit auch der Grund seiner Emigration genannt ist. Er wollte ein Buch über den Menschen in Unfreiheit, in Sklaverei, verfassen. In der Fremde und in Freiheit aber ist ihm sein Forschungsobjekt abhanden gekommen, so daß sein Projekt ins Stocken gekommen ist. AA repräsentiert den asketischen, an den Übeln der Welt leidenden Geistesmenschen, der reglos in seinem Schicksal verharrt, personifizierte Resignation. Der andere Emigrant, der wenige Minuten nach Spielbeginn den Kellerraum betritt, unterscheidet sich bereits äußerlich entschieden von AA: Elegant in Jackett, Hemd und Krawatte (Ton in Ton a la Mode) mit feinen Schuhen, dabei ein zufriedenes Grinsen ins Gesicht gemeißelt. Sofort sieht man die Eleganz, doch genau so schnell bemerkt man auch, daß die Kleidung zwar elegant, aber auch alt und nicht mehr so ganz frisch ist. Der Träger dieser angeschlagenen Eleganz, im Programmheft bezeichnet als XX, von Franz Kattesch großartig in Szene gesetzt, berichtet zufrieden von seinem Nachmittag, wie er durch die Stadt lustwandelte, am Bahnhof eine feine Dame kennenlernte und es mit ihr zu einer intimen Begegnung kam. Schnell entlarvt AA diese Geschichte als Lügenmärchen und Wunschgebilde. Überhaupt kennt AA seinen Zimmernachbarn genau, da er ihn als vollwertigen Ersatz für die Sklaven seines Heimantlandes ausgemacht hat. XX, das ist der dumpf vor sich hin lebende Mensch, der neben seiner täglichen Arbeit den Stimmen seiner Leibestriebe folgt und sich nicht weiter Gedanken über Sinn und Zweck des Daseins macht. So geht der Abend hin mit gegenseitigen Beschuldigungen und Entlarvungen, denn auch der Intellektuelle in seiner Lethargie wird bloßgestellt in seiner Untätigkeit. Verschiedene Versuche von beiden Protagonisten, durch die rückwärtige Tür das Elend des Kellerlochs zu verlassen, scheitern, da sich hinter der Tür nur ein schäbiger Gang und beißende Nebelschwaden befinden. AA und XX schließen ihren Frieden bei einer Flasche Wodka, da sie die Silvesternacht zelebrieren wollen. Dazu erklingt aus einer Spieluhr die Melodie eines Weihnachtsliedes. Das Spiel endet, wie es begonnen hat: Zwei einsame Männer, illusionslos und resigniert in einem kahlen schäbigen Kellerloch.
Ein nachdenkliches Publikum verließ das Theater, im Kopf das fulminante Spiel der beiden Hermannstädter Schauspieler Franz Kattesch und Georg Potzolli und das Bewußtsein, einer soliden Inszenierung beigewohnt zu haben. Die akustischen Effekte während des Stückes, Wasserrauschen und gelegentliche Moll-Improvisationen, verstärkten den Eindruck, den das Stück machte. Manchem schien es aber auch, daß sich die bleierne Schwermut der Spielszene bis ins Publikum erstreckte, wogegen das erfrischende Spiel der beiden Minnen nicht immer erfolgreich ankämpfte, allerdings liegt das natürlich im Charakter des Stückes selbst. Hinzu kommt die düstere Atmosphäre jenes Hinterzimmers, vielleicht noch der eine oder andere Gerüchtefetzen im Ohr über den Verbleib der deutschen Theater-Abteilung in Hermannstadt und fertig ist die Mixtur, die jede Frohnatur mit sich hinabreißt.
Wenn man sich die Realität anschaut und mit dem Spiel der Archetypen in der Emigration betrachtet, dann kann man immerhin zu dem Schluß kommen, daß es heute nur noch die XXe sind, für die wirkliche Notwendigkeit für die Emigration besteht. Der Intellektuelle kann schreiben und publizieren, was er möchte, sein Paradies kann er auch in der Heimat finden, das leibliche Wohl und all die feinen Dinge, die dazu gerechnet werden, lassen sich allerdings auch heute noch besser im Ausland beschaffen.

Fräulein Julie aus Temeswar (1998)

Am Montag, dem 27.04.98 hatte das Hermannstädter Publikum die Möglichkeit, ein anderes „Fräulein Julie“ kennenzulernen. Anläßlich des nationalen Studententheaterfestivals, das vom 24. bis zum 29. April im hiesigen Theater „Radu Stanca“ stattfindet, präsentierte das Deutsche Staatstheater Temeswar seine Deutung des Stückes von August Strindberg. So gab es die seltene Gelegenheit, zwei Inszenierungen desselben Stückes sehen und vergleichen zu können (die Hermannstädter Inszenierung vom Februar diesen Jahres ist noch in guter Erinnerung). Das Temeswarer Ensemble und seine darstellerische Leistung brauchte sich mit seiner Interpretation und Umsetzung vor dem gut gefüllten Zuschauerraum gewiß nicht zu verstecken, denn was die jungen Schauspieler boten, war der Ansicht wert. Das Stück unter der Regie von Stefan-Andreas Darida folgte dem Text August Strindbergs ohne wesentliche Kürzungen. Die Inszenierung verzichtete auf außergewöhnliche Ideen und Präsentationsweisen - hier im Unterschied zur Hermannstädter Inszenierung - und konzentrierte sich ganz auf den Text und seine schauspielerische Interpretation. So genügte sich das Bühnenbild in der Ausstattung von Traian Zamfirescu in der Darstellung einer rustikalen Küche mit fast überproportioniertem Mobiliar und einer Kochstelle im Hintergrund nebst einem Treppenaufgang. Für die ausdrucksvolle Interpretation des Textes war ohne Zweifel das schauspielerische Können und der Elan der drei Darsteller von besonderer Bedeutung: Kristin (Ildiko Frank), die untertänige Köchin, die ihr Schicksal mit Anstand trägt in dem Bewußtsein, daß sie in der Hierarchie weit unten rangiert und mit dem vorlieb nehmen muß, was übrigbleibt und die nur am Rande erwähnt, daß sie den Beischlaf ihres Verlobten mit ihrer Herrin auf dem Küchentisch beobachtet hat; Jean, der arrogante Kammerdiener, der sich seines guten Aussehens und der beiden um ihn buhlenden Frauen bewußt ist und dabei hin- und hergerissen ist zwischen seiner offiziellen Position als untertäniger, geradezu devoter Domestik einerseits und seiner privaten Rolle als betrügender stolzer Geck andererseits, der durch seine (sexuellen) Eroberungen immer überheblicher und unerträglicher wird und der im Grunde mit seiner Verführung von Fräulein Julie nur ein Ziel verfolgt, nämlich einen Sponsor für sein geplantes Hotel in der Schweiz zu finden; und schließlich Fräulein Julie, die aufgrund ihrer Familiengeschichte die Männer haßt und die doch ihr Herz an den falschen verliert, an Jean. Nachdem sie sich ihm hingibt, zeigt er sein wahres Gesicht und wandelt sich vom Charmeur zum Opportunisten. Ihr bleibt, wie so oft für liebende Frauen in der Theaterwelt, nur ein Ausweg. Da ihr der Mut fehlt und Jean sich außerstande sieht, das Spiel vom Rollentausch von Befehlsgeber und -empfänger fortzusetzen, führt Kristin die Hand ihrer Herrin im Akt der Selbstentleibung. Mit dramatischer Musik und einem „Vaterunser“ auf den Lippen beendet Fräulein Julie mit einem Rasiermesser ihr nun schandhaft gewordenes Leben und damit einen Theaterabend, der Theater in Reinform zeigte und dem nichts fehlte: Nicht das (Theater-)Blut und nicht das nackte Fleisch der Hauptdarstellerin. Das Publikum verlohnte es den abgekämpften Dienern Thalias mit anhaltendem Applaus.
Was an dem Abend auszusetzen wäre ist zunächst einmal im Stück selbst begründet, da es in einem uns heute fremden Milieu angesiedelt ist, was die Motivation der Handelnden zum Teil schwer nachvollziehbar macht. Warum z.B. muß sich die Protagonistin töten, nur weil sie (aus freien Stücken) sexuellen Kontakt hatte mit einem ihrer Diener? Diese und andere Fragen stellen sich aber oft bei der Konfrontation mit Stücken älteren Datums. So bleibt dem Betrachter nur die Möglichkeit, das Ganze als historisches Geschehen zu deuten, ohne nennenswerte Bezüge zur Gegenwart.
Im Vergleich mit der Hermannstädter Inszenierung fällt sofort die unterschiedliche Atmosphäre der beiden Stücke auf. War die hiesige Darstellung geprägt von einer finsteren, fast morbiden Stimmung, die untermauert war durch das stark dominierende Bühnenbild, mit zum Teil erschreckenden Szenen und einem über alle Maßen unsympathischen und gemeinen Jean (nichts für ungut, Franz!), präsentiert sich die Temeswarer Deutung in einem ganz anderen Licht. Die lustig beschwingte Tanzmusik zu Beginn des Stückes mit einem leichtfüßigen folkloristischen Tanz der drei Darsteller, die helle rustikale Küche und dazu ein wirklich netter und freundlicher Jean, dem man sein Verhalten nur wegen seiner Worte glaubt.
Dem schwermütigen düsteren Spiel der Hermannstädter Schauspieler stellte sich mit dem Temeswarer Ensemble eine leichte und beschwingte Inszenierung gegenüber. Welche der beiden Interpretationen die bessere war, vermag man nicht zu sagen, ist aber auch nicht von Bedeutung. Wichtig war vielmehr zu sehen, wie die Verschiedenheit der Deutungen im Vergleich die Qualität der beiden Inszenierung verdeutlichte.

Muss das sein: Ein dunkles Buch über die dunklen Seiten Goethes (1999)

Gern beschäftigt sich der Mensch mit anderen Menschen. Er beobachtet sie, er spricht über sie, er tauscht sich mit Menschen über andere Menschen aus und hofft, bei diesem Tauschgeschäft auch wieder etwas Neues zu erhalten, eine Geschichte, die vielleicht sogar mit dem Kribbel des Verbotenen, Fremden, Neuartigen verbunden ist. Besonders gern beschäftigt sich der Mensch mit anderer Menschen Sexualität, da der Reiz, der in der Körperlichkeit begründet liegt, hier garantiert ist. Handelt es sich um etwas Delikates, ist der Reiz größer. Auch seltene, vielleicht als ungehörig angesehene Bereiche werden hier gern gehört und feilgeboten. Das Höchste der Gefühle, das Beobachten der Mitmenschen betreffend, ist dann erreicht, wenn es sich bei der Entdeckung neuer unbekannter Seiten um bekannte Personen handelt, Personen, von denen man meint, alles und jede Kleinigkeit genau zu kennen.
Vielleicht mag dies auch der Grund sein, der Sie, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, in diesen Vortrag brachte. Sie werden enttäuscht werden. Dieser Vortrag handelt nicht von und auch nicht mit Goethes Homosexualität, noch nicht einmal seine Sexualität wird das Thema sein. Vielmehr wird die Rede sein von Texten, von Literatur und von dem, was man damit machen kann.
Das ideale Medium zum globalen Austausch indiskreter Details ist - was wir spätestens seit der ‘Romanze’ zwischen William (Bill) und Monica wissen - das Internet. Der wahre Grund zur Entwicklung neuer Medien liegt - so hat es zumindest den Anschein - in der tiefen menschlichen Leidenschaft des voyeuristischen Betrachtens der Fehltritte anderer Menschen und ihrer schnellstmöglichen Verbreitung. Wie auch immer.
Wenn man im Internet nach Seiten über Goethe sucht und zu diesem Zweck die Dienste einer der vielen Suchmaschinen in Anspruch nimmt, gelangt man zu einer recht umfangreichen Auflistung, auf der neben einer Vielzahl von Goethe-Instituten und dem Angebot des Dachdeckermeisters Heinrich Goethe auch eine Seite der „South Bank University London“ mit dem Titel „Johann Wolfgang von Goethe“ zu finden ist.
Auf dieser Seite wird der Versuch unternommen, Johann Wolfgang von Goethe zu „outen“. Ich weiß nicht, ob Sie mit der Terminologie vertraut sind, denn es gibt einen entscheidenden feinen Unterschied zwischen dem sogenannten „Coming out“ einer Person und dem „Outen“, was durch eine andere Person geschieht. Der Begriff „Coming out“ wird in der Regel in dem Zusammenhang verwendet, daß eine Person sich zu ihrer Homosexualität bekennt, was bei Personen des öffentlichen Lebens entsprechend öffentlich geschieht oder zumindest so, daß es die Öffentlichkeit schnell erfährt. Wenn eine andere Person nachhilft, also öffentlich verkündet: „X ist homosexuell!“, dann spricht man vom „outen“. Soviel zur neudeutschen Terminologie.
Die von mir entdeckte Seite im Internet, präsentiert von einer Gruppe namens: „The Knitting Circle“, was man übersetzen könnte mit „Häkel-/Strickgruppe“, im Sinne von „Kränzchen“, gibt unter der Überschrift „Johann Wolfgang von Goethe“ zunächst eine Kurzbiographie des Dichters, um im zweiten Absatz auf Goethes Bisexualität einzugehen. Er habe selbst oft auf diese seine Neigung und Sympathie hingewiesen. Als Beweis dient ein Epigramm Goethes mit folgendem Wortlaut:
Knaben liebt ich wohl auch, doch
lieber sind mir die Mädchen,
Hab ich als Mädchen sie satt, dient
sie als Knabe mir noch.
Im weiteren Verlauf heißt es dann, daß Goethe bereits 1908 geoutet wurde, und zwar in der „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“ in einem Artikel mit dem Titel: „Notizen aus Goethes Werken über Homosexualität“.
Weiter heißt es dann, daß die gesamte Welt seit langem davon weiß. Nur ein Land ignoriere diese Tatsache, das Land des Dichterfürsten, Deutschland. Der Autor des Artikels fährt fort: „Für die heterosexuelle Welt, in der Heilige einfach nicht schwul sein dürfen, waren die letzten Enthüllungen wie ein Schock, oder, wie ein guter schneller Tritt in den Hintern! Ist es wirklich möglich, daß es Deutschland unbekannt blieb, was der Rest der Welt wußte? Es erinnert einen ein bißchen an das selektive Gedächtnis, das Deutschland hat in bezug auf die Verfolgung von Homosexuellen, Zigeunern, Juden und anderen Unerwünschten. Homosexuelle in englischsprachigen Ländern haben schnell bemerkt, daß Deutschland auch lange nach dem Zweiten Weltkrieg Homosexuelle verfolgt.“ Als maßgebliche Quelle für diese Tatsache nennt der Artikel neben den vielen „deutlichen“ Hinweisen in Goethes Texten ein jüngst (1997) in Deutschland erschienes Buch von Karl Hugo Pruys mit dem Titel: „Die Liebkosungen des Tigers. Eine erotische Goethe Biographie.“ Dieses Buch, so wird vermerkt, wurde mit großen Erwartungen begrüßt, doch was geschieht in Deutschland? Das Land ist schockiert, „unfähig weiter zu lesen“. Und die Stiftung Weimarer Klassik, die dem Autor Pruys vor der Veröffentlichung Werbung und Verkauf seines Buches versprach, zog ihr Angebot in dem Augenblick zurück, als ihr deutlich wurde, daß Pruys die Idee vertrat, „Goethe war praktizierender Homosexueller“. Wir haben nun also folgendes Personal: eine wissende Minderheit, einen enthüllenden Märtyrer und eine ignorante (Goethe-)Clique, die stellvertretend für ein ganzes, ebenso ignorantes Land steht.
Als erstes stellt sich vielleicht die Frage, wer ist jener schonungslose Aufklärer namens Karl Hugo Pruys? Sein letztes Buch vor dem Goethe-Werk war eine Biographie des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, ansonsten schreibt er, so der Klappentext, „kommunikationswissenschaftliche und sprachkritische Bücher“. Daß dieser Mann kein Literaturwissenschaftler ist, wird schnell deutlich. So finden sich keine Literaturangaben, noch nicht einmal zu der verwendeten Primärliteratur. Nicht selten kann man dies bei sogenannten populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen beobachten, die auf den gesamten wissenschaftlichen Apparat wie Quellenangaben, Anmerkungen, Fußnoten, Literaturverzeichnis usw. verzichten. Anstelle von konkreten Verweisen wird dann im Text formuliert: „Wie man entdeckt/festgestellt/untersucht hat....“. Bei einem Buch, das sich zur Bestätigung seiner Thesen und Behauptungen auf Primärtexte stützt, wirkt ein solches „unbefangenes“ Umgehen mit Texten reichlich deplaziert, wenn nicht sogar gefährlich.
Seine Professionalität und Kenntnis im Umgang und der Auseinandersetzung mit Goethe unterstreicht Pruys mit der im Internet zitierten Aussage, er habe ungefähr 2500 Briefe aus der Korrespondenz zwischen Goethe und seinen Zeitgenossen gelesen und diesen Mann seit 10 Jahren studiert. Diese Aussage muß reichen um uns davon zu überzeugen, daß wir es mit einem wahren Kenner und Experten von Goethe und seinem Werk zu tun haben.
Die Lektüre des Werkes von Pruys überzeugt jeden Leser vollständig von seinem Wissen und seinem subtilen Umgang mit Details und Fakten.
Ich möchte nun einige der besonders schönen Stellen aus diesem Buch nennen, damit auch Sie sich ein Bild machen können. Pruys versucht auf zwei Wegen, Goethes wahrer Sehnsucht auf die Schliche zu kommen, indem er sich Goethes Biographie anschaut und in seinem Werk nach Spuren von homoerotischen Beweisen/Hinweisen sucht.
Goethe hat sich bevorzugt in Frauen verliebt, die für ihn unerreichbar waren, weil sie verheiratet oder zu jung oder nicht standesgemäß waren. Das ist für Pruys ein entscheidender biographischer Beweis für die Homosexualität: „Goethe entwickelte (...) ein merkwürdiges System der Tabuisierung des Zugangs zu Frauen, indem er sich vornehmlich jenen zu nähern suchte, die ihm als Sexualobjekt von vornherein unnahbar erscheinen mußten: der verheirateten oder viel jüngeren Frau, einem weiblichen Wesen weit unter seinem Stand, nicht zu vergessen: der eigenen Schwester!“ (Pruys 97:14f.). Ein anderer Beweis sind die Briefe, die Goethe an befreundete Männer schrieb, so z.B. an Ernst Wolfgang Behrisch: „Du bist weg, und das Papier ist nur eine kalte Zuflucht, gegen deine Arme. O Gott, Gott...“ (ebda. 25). Zu einer anderen Stelle des Briefes: „O daß du hier wärest, daß du mich trösten, daß du mich lieben könntest“ schreibt Pruys: „Das liest sich wie ein Stück aus einem Roman der Epoche der Empfindsamkeit, doch der Schlußsatz wiederum wirkt aufrichtig und mutet noch heute authentisch an“ (ebda.). Daß es zu jener Zeit zu den Gepflogenheiten gehörte, ähnlich pathetisch und empfindsam zu sprechen bzw. schreiben, auch wenn es sich nicht um Dichtung handelt, scheint dem Autor entgangen zu sein. Auch von einer empfindsamen (Lebens-)Kultur, die alle Bereiche des Alltags durchwirkte und die auch und wahrscheinlich gerade von einem jungen Dichter des Sturm und Drang gelebt wurde, hat der Autor offenbar nicht gehört. Einige weitere Belege führt der Autor an, die alle in die nämlich Richtung weisen, die ich Ihnen erspare.
Interessanter, weil zum Teil absurder, erscheint mir da die Begründung von Goethes Homosexualität aus seinen poetischen Texten heraus.
Grundsätzlich habe ich gewaltige Einwände gegen den Versuch, poetische Texte zur Aussage über ihren Verfasser zu zwingen. Hier sollte man den Texten ihr Recht auf Verweigerung jeder Aussage zugestehen. Die moderne Literaturwissenschaft - und damit meine ich die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre - hat sich nicht mehr zum Ziel gemacht, die geheime und geschickt versteckte Botschaft eines Autors in seinen Texten ausfindig zu machen. Jene leidenschaftlich von Deutschlehrern über Generationen vorgetragene Frage: „Was will uns der Autor damit sagen?“ hat ausgedient und ihren wohlverdienten Alterssitz in den Köpfen pensionierter Studienräte gefunden.
Die theoretische Auseinandersetzung mit Literatur und ihrem angemessenen Umgang hat Veränderungen mit sich gebracht, die ein Vorgehen wie das beschriebene geradezu absurd erscheinen lassen. Bereits die Strukturalisten der 60er und 70er Jahre verweigerten sich der kommentierenden Textauslegung hermeneutischer Konzeptionen, die laut Foucault, einem bedeutenden französischen Philosophen und Soziologen, zurückgeht auf das Verfahren der Bibelexegese, das ja nichts anderes besagt, als daß am Anfang eine Bedeutung steht, die durch den Text immer wieder und aufs neue zur Deutung herausfordert, jedoch niemals erfolgreich abgeschlossen sein kann. Verlagerte die strukturalistische Vorgehensweise in der sogenannten Diskursanalyse ihre Auseinandersetzung mit Texten auf die intertextuelle Ebene, so wandten sich die Vertreter der Rezeptionsästhetik einem bisher unbekannten Part im literarischen Sprachspiel zu, dem Leser. Er ist es, der ein Kunstwerk erst zu einem solchen macht. Während ein Text gelesen wird, verwandelt er sich aus einer Menge von toten Schriftzeichen in Bedeutung und damit in Kunst. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes führt zu der Erkenntnis, daß die vorher angenommene Triade Autor - Text - Leser, die ja modifiziert wurde in Autor - Erzähler - Text - Leser auch auf der Leserseite eine Erweiterung erfahren muß, so daß am Ende die logische Konsequenz Autor - Erzähler - Text - immanenter/fiktionaler Leser - realer Leser steht. Die Existenz eines immanenten Lesers - so die Vertreter dieses Ansatzes - ist an vielfältigen Zeichen im Text erkennbar, so in der - gelegentlich vorkommenden - direkten Anrede des Leser, die ja nicht das Individuum meint, welches das Buch gekauft hat. Diese fortschreitende ‘Fiktionalisierung’ der unterschiedlichen, in der Produktion und Rezeption von Texten interagierenden Parteien, impliziert natürlich einen veränderten Umgang mit Texten als solchen. Wie bereits erwähnt, ist die Frage, die der Interpretation vorausgeht und diese in Gang setzt, nicht mehr die nach dem Realitätsbezug von Texten, also in der genannten Art: Was will der (reale) Autor mit seinem Text dem (realen) Leser über die (reale) Welt sagen? An ihrer Stelle steht eine Vielzahl von Fragen: Aus dem ‘Was bedeutet dieser Text/Satz?’ wurde beispielsweise ein ‘Was tut dieser Text/Satz (mit dem Leser)?’.
Ein wichtiges Ergebnis dieser Art von Auseinandersetzung mit der Literatur ist, daß Dichtung im Grunde keine Textsorte ist, sondern eine ‘Lesestrategie’, d.h. es handelt sich hier um keine Qualität des Textes, sondern um ein Resultat des Lesevhaltens. Sie können den Unterschied leicht erkennen, wenn sie sich folgendes vor Augen halten: Das geschriebene Wort ‘Ich’ in einem Brief, den Sie erhalten, verweist eindeutig auf den realen Autor dieses Textes. Wenn Sie jedoch einen Roman oder ein Gedicht lesen, repräsentiert dieses ‘Ich’ nicht und niemals den Autor. Der Grund hierfür liegt einzig darin, daß es sich im zweiten Fall um Dichtung/Literatur handelt, weder grammatisch noch logisch ist dies aus dem Text selbst ersichtlich.
Eine andere Position bezüglich der Leserfunktion besagt folgendes: Wir lesen, um unsere Identität zu entwickeln und füllen unsere eigenen Wünsche und Ängste in das literarische Werk. Was wir sehen, ist das, was wir uns wünschen, was wir nicht sehen, das, was wir verdrängen.
Behalten Sie das Gesagte im Kopf und lassen Sie mich nun zurückkehren zu unserem „Goethe-Clubber“ (was soviel bedeutet wie „Goethe-Prügler“), wie Karl Hugo Pruys nicht ohne Verehrung im Internet genannt wird. Auch wenn man nicht vertraut ist mit den Entwicklungen der literarischen Auseinandersetzung der vergangenen Jahrzehnte, sollte man hin und wieder vorsichtig sein bei der Art und Weise der Textexegese. Der interpretatorische Klimax des Buches von Pruys ist wahrscheinlich erreicht in dem „Willkommen und Abschied“ titulierten Kapitel. Ich möchte eine kurze Passage daraus zitieren: „Als Jurist weiß Goethe um die Strafbarkeit homosexueller Betätigung, natürlich, und so unterläßt er alles, was in seinem Verhalten darauf hinweisen könnte. (...) Das Strafrecht seinerzeit spricht in diesem Zusammenhang (...) von ‘Sodomiterei’, gemeint sind damit sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen. Bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus war Homosexualität mit der Todesstrafe bedroht, in Ausnahmefällen wurden Jugendliche verschont. Nach der Säkularisierung des Strafrechts und einer weiteren Milderung einschlägiger Paragraphen wird im preußischen Landrecht von 1794 angeordnet: ‘Sodomiterei und andere dergleichen unnatürliche Sünden, welche wegen ihrer Abscheulichkeit nicht genannt werden können, erfordern eine gänzliche Vertilgung des Andenkens.’ Es folgt eine Bestimmung, deren Kenntnis wir bei Goethe voraussetzen dürfen und die ihn zu einem Kunstgriff verleitete, der sehr aufschlußreich sein kann: ‘Es soll daher ein solcher Verbrecher, nachdem er eine ein- oder mehrjährige Zuchthausstrafe mit Willkommen und Abschied (sic!) ausgestanden hat, aus dem Orte seines Aufenthaltes, wo sein Laster bekannt geworden ist, auf immer verbannt werden.’ Das Begriffspaar steht strafrechtlich für das Auspeitschen des Delinquenten beim Eintreffen und bei der Entlassung aus dem Zuchthaus. Goethe hat sein Briefgedicht an Friederike, beginnend mit dem Vers ‘Es schlug mein Herz...’, erst später bei der Veröffentlichung der ersten Gesamtausgaben seiner Werke mit eben diesen Worten ‘Willkommen und Abschied’ betitelt. Ein Zufall? Sicher nicht. Goethe wußte, was er tat, und er wollte uns damit vermutlich ein Zeichen geben.“ (Pruys 97:44). Pruys wollte uns mit diesem Kapitel wohl auch ein Zeichen geben, ob er (Pruys) dabei wußte, was er tat, ist fraglich. Über diesen offensichtlichen Blödsinn hinaus kann ich diesem Abschnitt nichts entnehmen, was in irgendeiner Weise von Bedeutung wäre. Pruys liefert natürlich keine Quellenhinweise zu den von ihm zitierten Textstellen. Dadurch hätte sein Text einen Hauch von Wissenschaftlichkeit oder doch zumindest von Seriosität erhalten, aber dies wurde nicht für notwendig gehalten. „Ein Zufall? Sicher nicht.“ (zitiert nach Pruys). Worum es dem Autor in seinem Buch eigentlich geht, wird nicht klar. Er selbst schreibt in einer Art Nachwort davon, daß die - wie er sie nennt - dunkle Seite Goethes bisher kaum Beachtung fand, obwohl sie ihm bei der Beschäftigung mit Goethe immer wieder auffiel. Außerdem sei es doch wichtig, welchen erotischen Neigungen und Phantasien ein Dichter nachgeht, vor allem da Goethe nicht als irgendein Dichter, sondern „unbestreitbar als der Schöpfer abendländischer Liebespoesie gesehen werden darf, jedenfalls in der Neuzeit“. Damit behauptet Pruys also, ein aufklärerischer Impetus stecke hinter seiner Arbeit. Wenn dem so ist, warum hat er dann, in seinem Bemühen um eine notwendige Ergänzung der Goethe-Forschung, auf jedes Anzeichen von seriösem Arbeiten verzichtet und sein Buch als Anhäufung von Spekulationen und nicht nachvollziehbaren Beweisen zusammengeschrieben? In welche Richtung diese Beweise laufen sollen, bleibt auch nicht ganz klar: Pruys spricht niemals eindeutig davon, daß Goethe homosexuell war, mal nennt er homoerotische Neigungen, ein anderes Mal geht es um seine latente Homosexualität, wieder ein anderes Mal ist Goethe bisexuell. Im Nachwort wiederum heißt es, daß Goethe Frauen gegenüber bindungsunfähig war, dennoch widmet Pruys einen Teil seines Buches den Beziehungen Goethes zu den Frauen.
Sei es, wie es sei, die sexuellen Präferenzen Goethes sollen uns nicht weiter interessieren. Interessieren sollen und müssen uns aber Texte wie der von Pruys, die all das ignorieren, was eine seriöse Literaturwissenschaft in ihrem Bemühen um wissenschaftliche Anerkennung in der Vergangenheit erreicht hat.
Eine schöne Stelle hat dieses Buch allerdings, ein zitiertes Gedicht aus den Venetianischen Epigrammen von Goethe. Dabei ist dieses Gedicht bei Pruys - natürlich wieder ohne Quellenangabe - ein wenig anders zitiert, wo ich an anderer Stelle ein F mit drei Pünktchen fand, steht bei Pruys ein ganzes Wort. Ich zitiere: „Was ich am meisten besorge: Bettina wird immer geschickter, / Immer beweglicher wird jegliches Gliedchen an ihr; / Endlich bringt sie das Züngelchen noch ins zierliche Fötzgen, / Spielt mit dem artigen Selbst, achtet die Männer nicht viel.“ Auch wenn ein Wermutstropfen den Genuß ein wenig bitter macht, da die genannte Leerstelle wahrscheinlich von Pruys und niemand anderem ausgefüllt wurde, so gibt dieses Zitat doch ein wenig Trost nach der unendlichen Weite an Elend und Jammer, die Karl Hugo Pruys in seinem Buch dargeboten hat. Und ob Goethe nun schwul war oder nicht, interessiert nach diesem Epigramm doch wirklich niemanden mehr, oder?

Deutsch als Wissenschaftssprache (2000)

Mit der Reform der deutschen Rechtschreibung wurde die deutsche Sprache für die Öffentlichkeit wieder interessant. An vielen Stellen, an denen man es nie vermutet hätte, brandete eine heftige Diskussion über Sinn und Unsinn der Veränderung von Schreibweisen. Daneben aber gibt es noch zwei Themen, die ebenfalls mit der deutschen Sprache zu tun haben und sich – wie es scheint – zur Emotionalisierung eignen. Es ist dies zum einen der allgemeine Sprachverfall, zum andern der englische bzw. amerikanische Einfluß auf die deutsche Sprache.
Handelt es sich bei diesen Themen um Einflüsse und Veränderungen der Standardsprache in ihrer Alltagsvarietät, so kann seit einiger Zeit auch bei der Verwendung und bei der Bedeutung von Deutsch als Wissenschaftssprache eine veränderte Situation konstatiert werden. So ergab eine 1990 bei Wissenschaftlern der Freiburger Universität durchgeführte Umfrage: „Ungefähr zwei Drittel aller Befragten glauben, daß ihre wissenschaftliche Karriere vom Gebrauch des Englischen abhängig sei.“ (Schiewe 1996:18). Friedhelm Debus kommt in seinem Aufsatz „Entwicklungen der deutschen Sprache in der Gegenwart – und in der Zukunft?“ zu der Vermutung, daß in jüngster Vergangenheit ein Wechsel vom Deutschen zum Englischen als Wissenschaftssprache begonnen hat und er befürchtet, „daß das Deutsche hierbei durch mangelnde Übung und Nicht-Worten des wissenschaftlichen Fortschritts funktional wieder auf einen rudimentären Stand zurücksinkt und als Wissenschaftssprache unbrauchbar wird.“ (Debus 1999:19)
Die Überlegungen von Friedhelm Debus haben ein Symposion zum Thema Deutsch als Wissenschaftssprache angeregt, das die Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz im Januar 2000 veranstaltete. Vertreter aller wissenschaftlichen Disziplinen diskutierten hier zwei Tage über die Entwicklung des Deutschen zur Wissenschaftssprache und die gegenwärtige Situation.
Noch vor 100 Jahren war Deutsch die Wissenschaftssprache der Welt, dies allerdings erst, nachdem im 18. Jahrhundert der Übergang vom Latein stattgefunden hatte, das bis dahin die Sprache der Wissenschaft gewesen war, also die Sprache der universitären, inderdisziplinären und internationalen Kommunikation für die Lehre, die Publikationen und den wissenschaftlichen Austausch.
„In den 30er Jahren [unseres Jahrhunderts] mußten US-amerikanische Chemiker generell Lesefähigkeiten in deutscher Sprache nachweisen, weil die deutschsprachigen Fachveröffentlichungen nicht ignoriert werden konnten; sogar deutschsprachige Lehrbücher der Chemie waren an US-amerikanischen Universitäten im Gebrauch [...]. Die skandinavischen Länder, die Niederlande und die meisten osteuropäischen Länder verwendeten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis ungefähr zum II. Weltkrieg neben ihren Muttersprachen in beträchtlichem Umfang Deutsch als Wissenschaftssprache, insbesondere auch für eigene wissenschaftliche Publikationen, die international rezipiert werden sollten. In Portugal war vor dem II. Weltkrieg für Juristen Deutsch obligatorisches Begleitstudium [...], ebenso in Japan [...], wo Deutschkenntnisse aber auch für andere Wissenschaftler praktisch unabdingbar waren, z.B. für Mediziner, die sogar ihre Krankenkarteien in deutscher Sprache führten.“ (Ammon 1991:251f.).
Die wachsende Bedeutung der englischen Sprache und ihre Dominanz gegenüber dem Deutschen wird allgemein für die Zeit ab 1933, also mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, spätestens aber seit dem 2. Weltkrieg angenommen. Es finden sich aber Anzeichen dafür, daß der Rückgang des Deutschen im internationalen Wissenschaftsgeschehen schon früher begann. So sieht Ulrich Ammon (Duisburg) einen wichtigen Grund für den Rückgang bereits im Verhalten deutscher Wissenschaftler zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Viele von ihnen waren aktive Kriegsteilnehmer und 93 unterschrieben im Oktober 1914 den Aufruf „An die Kulturwelt!“, der den Krieg rechtfertigte. Dies prägte maßgeblich das Bild der deutschen Wissenschaftler im Ausland. Zusätzlich verweigerten deutsche und österreichische Wissenschaftsorganisationen die internationale Zusammenarbeit. Als Folge davon wurden im Ausland neue Zeitschriften und Referatenorgane gegründet und auf internationalen Konferenzen wurde nur noch Englisch und Französisch gesprochen. Ohnehin fanden viele Konferenzen ohne die Beteiligung deutscher Wissenschaftler statt. Die Zahl der deutschsprachigen Fachpublikationen ging entsprechend zurück. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 verschlechterte sich die Situation der deutschen Wissenschaft in bisher nicht gekanntem Ausmaß. So wurden bis 1936 1677 deutsche Wissenschaftler jüdischer Herkunft vertrieben. Von ihnen ging die Mehrzahl in englischsprachige Länder: in die USA (1160), nach Großbritannien (318) und nach Australien (17). Mit dem Ortswechsel war der Gebrauch des Englischen bei der Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Arbeit verbunden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft haben leider die Bundesrepublik Deutschland und ihre wissenschaftlichen Repräsentanten versäumt, die emigrierten deutschen Wissenschaftler zu bitten, nach Deutschland zurückzukehren.
Der Sprachwechsel in der Wissenschaft vom Deutschen hin zum Englischen wird häufig mit dem vom Latein zum Deutschen verglichen. Schaut man sich aber die gegenwärtige Situation genauer an, so kann man feststellen, daß heute nur bei den wissenschaftlichen Publikationen die englische Sprache dominiert. Sowohl im fachlichen Austausch deutscher Wissenschaftler untereinander als auch in der Lehre herrscht weiterhin die Verwendung der Muttersprache, des Deutschen, vor. Was sich verändert hat, das ist die Sprache der Veröffentlichungen. So wird es in den verschiedenen Disziplinen immer wichtiger auf Englisch zu publizieren, um die internationale Verbreitung und Diskussion der eigenen Forschungsergebnisse zu ermöglichen und zu sichern. Betrachtet man deutsche Fachpublikationen, dann zeigt sich ein steigender Anteil deutscher Autoren sowohl in der Zahl deutschsprachiger als auch englischsprachiger Aufsätze. Das heißt: Deutsch verliert seinen Status als Wissenschaftssprache, zumindest im genannten Bereich. Einige wenige Fächer wie die theoretischen und angewandten Naturwissenschaften und einige geisteswissenschaftliche Disziplinen (klassische Archäologie und Philologie, Theologie (vor allem evangelische), Musikwissenschaft und Philosophie) sperren sich gegenüber dieser englischsprachigen „Internationalisierung“. Aber auch hier verändert sich die Situation allmählich und man fragt, ob es sich bei der Aussage über die beharrlich deutsch kommunizierenden Nischenfächer um Tatsachen oder nur noch um einen liebgewonnenen und tröstenden Mythos handelt.
Wenn man sich die Situation in den 20er und 30er Jahren ansieht (ich verweise auf das angegebene Zitat), so kann man feststellen, daß damals die Physik, und zwar die internationale Physik, von deutschen Wissenschaftlern dominiert wurde. Diese Wissenschaftler publizierten und hielten ihre Vorträge auch an ausländischen Universitäten auf deutsch, als prominentes Beispiel genannt seien hier Max Planck und Albert Einstein. Bis 1928 waren 38% aller Schriften über die Relativitätstheorie in deutscher Sprache abgefaßt. Zu einem Zeitpunkt also, als die führenden Physiker der Welt aus Deutschland kamen, war Deutsch die internationale Sprache der Physik. Wie aber sieht es heute aus? Ein deutscher Physiker hat kürzlich den Nobelpreis erhalten, publiziert er deutsch?
Ein ähnliches Bild präsentiert sich in der Medizin. Die wissenschaftliche Medizin spricht heute Englisch. Vor dem Ersten Weltkrieg und bis zur Mitte der 20er Jahre war Europa die maßgebliche Region in der wissenschaftlichen Medizin. Die Publikationssprache war die jeweilige Muttersprache (also deutsch, französisch, italienisch, spanisch und englisch). 1924 bekam der erste Nicht-Europäer den Medizin-Nobelpreis. Der wissenschaftliche Schwerpunkt verlagerte sich immer stärker in die USA, da viele jüdische Wissenschaftler emigriert und viele junge Wissenschaftler im Krieg gefallen waren. Damit verschoben sich die sprachlichen Relationen: Englisch wurde zur meistgesprochenen Sprache. So ist es heute notwendig geworden, bei Fachpublikationen die englische Sprache zu verwenden.
Es zeigt also folgendes: Wenn von deutschen Wissenschaftlern wichtige Impulse für die Wissenschaft ausgehen, dann wird auch das Interesse an der Lektüre deutscher Texte und damit an Deutsch als Wissenschaftssprache erwachsen bzw. bestehen bleiben.
Das zeigt auch mein nächstes Beispiel aus den Ingenieurwissenschaften: Die Konstruktionslehre ist in Deutschland entwickelt worden. Die Fachzeitschrift „Konstruktion“ erscheint in deutscher Sprache. Sie hat bisher einen einzigen englischen Artikel publiziert.
Deutschsprachige Forschungsbeiträge werden also noch immer über die Sprachgrenze hinweg gelesen, wenn sie qualitativ hochwertig sind und neue Entwicklungen bringen. Insgesamt aber ist auch bei den Ingenieurwissenschaften die Tendenz zu beobachten, daß Englisch an Bedeutung gewinnt. Das gilt stärker für die Theorie als für die Praxis. Dies entspricht der während des Symposions mehrfach geäußerten These, je formaler und mathematischer eine Wissenschaft sei, desto unproblematischer sei die Verwendung einer Fremdsprache und je deskriptiver und exakter eine Wissenschaft, desto wichtiger sei entsprechend die Verwendung der Muttersprache.
Es ergeben sich Fragen, die im Kontext von Deutsch als Wissenschaftssprache wichtig sind:
1. Wie sieht die Realität aus, ist Deutsch als Wissenschaftssprache wirklich von schwindender Bedeutung, und wenn, in welchen Disziplinen?
2. Warum wird es als negativ bewertet, wenn Deutsch seine Bedeutung im internationalen Austausch verliert?
3. Was kann getan werden, um der vorherrschenden Tendenz entgegenzuwirken?
(1)Wie sich während des Symposions gezeigt hat, ist Deutsch nicht vollkommen aus den Wissenschaften verschwunden. Das Vordringen der englischen Sprache ist zwar in den meisten Wissenschaftsdisziplinen festzustellen, von wenigen Fächern abgesehen, in denen Deutsch die relevante Sprache geblieben ist und vermutlich auch bleiben wird. Dort aber, wo sich die Veränderung vollzieht, ist nur ein Teil im gesamten wissenschaftlichen Diskurs betroffen, nämlich die wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Die intra-universitäre Kommunikation, also Lehre, Forschung, der Austausch mit Kollegen innerhalb des Landes und der Wissenschaftsjournalismus im Lande, geschieht auf deutsch. Dies wird voraussichtlich auch weiterhin so bleiben.
(2)Eine Aussage von Harald Weinrich wurde mehrfach zitiert und kontrovers diskutiert. Weinrich spricht sich für den Erhalt des Deutschen als Wissenschaftssprache aus, weil sonst auch die Wissenschaft ärmer werde. Der Gebrauch einer Sprache läßt sich nicht von einer bestimmten Forschungstradition trennen. Verbunden mit der Muttersprache ist aber auch die Möglichkeit des differenzierten, nuancierten Ausdrucks , die in der Fremdsprache nicht gegeben ist. Alles das würde verlorengehen, wenn sich die englische Sprache als Wissenschaftssprache auf allen Kommunikationsfeldern durchsetzte. Eingeschränkt werden muß, es wäre für deutsche Wissenschaftler ein Verlust, eine wachsende Verwendung der englischen Sprache wäre aber auch ein Verlust für Wissenschaftler aus anderen nicht-englischsprachi-gen Ländern. Damit bekommt die Diskussion eine neue Dimension, die in ihrer Konsequenz für die weitere Verwendung der Muttersprache im Wissenschaftsbetrieb des eigenen Landes plädieren läßt. Dies betrifft alle Sprachen, die sich für die wissenschaftliche Auseinandersetzung eignen. Ein weiterer Aspekt ist gleichfalls von großer Bedeutung: Wenn man für die Verwendung und den Erhalt der Muttersprache in der Wissenschaft plädiert, so besteht bei Verwendung der Muttersprache die Möglichkeit des Austauschs zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. So hat die Wissenschaft leichter die Möglichkeit, ihre „Bringschuld“ (Konrad Adam, FAZ) gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen.
(3) Man sollte versuchen, von der Formel „Englisch = weltoffen, modern; Muttersprache = provinziell, bodenständig“ wegzukommen, um den Weg für die Verwendung der Muttersprache in der Wissenschaft freizumachen bzw. zu erhalten, so oft und so gut es geht.
Es wurde immer wieder erörtert, ob das Englische sich besonders gut als internationale Wissenschaftssprache eigne. Die Antwort blieb offen. Doch in der eigenen Muttersprache kann der Autor sehr viel differenzierter der Wissenschaft dienen als in einer gelernten Fremdsprache.
Es wurde verschiedentlich angeregt, Kommissionen zu bilden, um englische Termini zu übersetzen und einen behutsamen Sprachzwang auszuüben. Ein Vorschlag auf der abschließenden Podiumsdiskussion lautete, einen Preis für die beste Transferleistung von Wissenschaftlern gegenüber der Öffentlichkeit auszuschreiben. Diese gute Idee bringt das Problem auf den Punkt: Nicht nationalchauvinistische Gründe sind es, die die Sorge nach dem Rückgang des Deutschen als Wissenschaftssprache erwachsen lassen, es ist die Befürchtung, daß die ohnehin existierende Kluft zwischen Gesellschaft und Wissenschaft durch die exhaustive Verwendung einer Fremdsprache noch tiefer gerät. Allerdings scheint es (noch?) nicht nötig, Alarm zu schlagen, da sich der Gebrauch des Englischen momentan auf den internationalen wissenschaftlichen Austausch beschränkt (Publikationen, Kongresse). Diese Entwicklung ist nicht sprachimmanent zu erklären.


Literatur:
- Ammon, Ulrich: Die internationale Stellung der deutschen Sprache. Berlin, New York 1991.
- Debus, Friedhelm: Entwicklungen der deutschen Sprache in der Gegenwart – und in der Zukunft? Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Stuttgart 1999.
- Gesellschaft für deutsche Sprache: Deutsch und Englisch. Stellungnahme der Gesellschaft für deutsche Sprache zum englischen Einfluss auf die deutsche Sprache. In: Der Sprachdienst 6 (1999), S. 217-220.
- Kretzenbacher, Heinz L.; Weinrich, Harald (Hrsg.): Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin, New York 1995.
- Schiewe, Jürgen: Sprachenwechsel – Funktionswandel – Austausch der Denkstile. Die Universität Freiburg zwischen Latein und Deutsch. Tübingen 1996

Aspekte von Sprache und Information (1998)

Vortrag

Ich möchte im folgenden über einige Aspekte meiner Auseinandersetzung mit Sprache, Information und Redundanz sprechen. Den Anstoß für diese Auseinandersetzung gab eine Untersuchung über die Sprache der „Tagesschau“. Es wurde berichtet, daß diese Sendung zwar von sehr vielen Menschen gesehen wird, daß aber nur sehr wenige in der Lage sind, anschließend den Inhalt der Beiträge auch nur in Ansätzen wiederzugeben. Der Grund hierfür, so wurde konstatiert, sei die fehlende Redundanz in der verwendeten Sprache. Nun ist der Begriff der Redundanz allgemein geläufig zur Bezeichnung von Überflüssigem, von dem, was nicht der Rede wert ist. Jetzt hieß es plötzlich, mangelnde Redundanz sei Ursache für das Nichtverstehen von Texten. Das irritierte mich. Und ich machte mich auf, der Redundanz und ihrer womöglichen Bedeutung auf den Grund zu gehen.
Der Terminus Sprache benennt im folgenden natürliche menschliche Sprache. Information bezeichnet den Anlaß für jede Kommunikation, es bezeichnet also das Neue, das der Sender einer Botschaft vermitteln will.
Für die Beschäftigung mit Information sind Claude Shannon und Warren Weaver von großer Bedeutung, zwei Nachrichtentechniker, die 1949 ihr Werk „The mathematical theory of communication“ (dt.: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, 1976) vorlegten. Darin beschrieben sie eine Formel zur Berechnung von Information und Redundanz, wobei sie Information als das zu Übertragende betrachteten und Redundanz als Opposition. Entscheidend bei der Berechnung war dabei für sie die statistische Auftretenswahrscheinlichkeit eines Zeichens. Das Grundprinzip der Informationstheorie lautet entsprechend: Je größer die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines bestimmten Zeichens in einem bestimmten Übertragungsprozeß, desto geringer sein Informationsgehalt.
Ich möchte nicht weiter auf die Formel von Shannon und Weaver zur Informationsbestimmung eingehen, entscheidend ist der Ansatz ihrer Überlegungen, von festen Wahrscheinlichkeitswerten der einzelnen Zeichen in einem bestimmten Kontext auszugehen und diese mit dem Grad des Informationsgehalts in Bezug zu setzen. An anderer Stelle sprechen Shannon und Weaver von Wahlfreiheit als determinierendem Element von Information, d.h. je größer die Wahlfreiheit bei der Entscheidung für ein bestimmtes Zeichen an einer Stelle im Übertragungsprozeß (und damit je unwahrscheinlicher dieses Zeichen), desto größer ist der Informationsgehalt dieses Zeichens.
Außerdem kommt Shannon und Weaver der Verdienst zu, als erste den wichtigen Aspekt der Störungen bei der Betrachtung kommunikativer Prozesse berücksichtigt zu haben. Sie stellten fest, daß Störungen - man spricht auch von „Rauschen“ als der Gesamtheit aller auftretenden Beeinträchtigungen - typisch sind für jede Art von Datenübertragung: „In Wirklichkeit sind sämtliche Kommunikationssignale Störungen unterworfen, die im allgemeinen weder vom Sender noch vom Empfänger beeinflußt werden können“ . Aus diesem Grund darf eine zu übertragende Botschaft nicht nur Information enthalten.
Dazu ein kurzer Blick auf das Modell der Kommunikation (Nr. 1): In der einfachsten Form dieses Modells gab es nur Sender, Empfänger, Übertragungskanal und Nachricht. Heute ist dieses Modell etwas komplexer geworden, es gibt einen Sender/Expedienten und einen Empfänger/Rezipienten, dazu noch einen Übertragungskanal, der Störungen unterliegt und eine Botschaft, die übermittelt werden soll. Hier muß allerdings differenziert werden zwischen der Botschaft1, wie sie im Kopf des Senders vorhanden ist, der Nachricht, wie sie als materialisierte Form von Botschaft1 als Folge von Zeichen übertragen wird und der Botschaft2, wie sie im Kopf des Empfängers dekodiert wird. Im idealen Fall sind Botschaft1 und 2 identisch, was aufgrund der Beeinträchtigungen während des Übertragungsprozesses eher selten der Fall ist (die Abweichungen aufgrund unterschiedlicher Zeichenvorräte und Kodier- bzw- Dekodierweisen bei Sender und Empfänger, die immer impliziert werden müssen, lasse ich zunächst unberücksichtigt). Da Störungen in erster Linie die materielle Ebene der Nachricht betreffen, muß eine Sicherung dort erfolgen: Eine Möglichkeit besteht darin, daß der Zeichenkode störungsresistent wird dadurch, daß nicht alle Kombinationsmöglichkeiten des Zeichenkodes genutzt werden. Ein Beispiel: Ein binärer Zeichenkode mit Kodewörtern (d.h. zulässigen Zeichenkombinationen) aus je drei Zeichen hat die Kodewörter (Nr. 2): 000; 001; 010; 100; 011; 101; 110; 111. Wenn es bei der Übertragung eines dieser Kodewörter zu einer Veränderung durch Störungen kommt, dann entsteht jedesmal wieder ein zulässiges Zeichen. Verwendet man im besagten Kode jedoch nicht alle möglichen Kombinationen als zulässig sondern bspw. nur die Varianten 000; 011; 101 und 110, dann lassen sich Fehler erkennen.
Eine andere Möglichkeit der sogenannten immanenten oder passiven Redundanz zur Fehlersicherung ist die gleichzeitige Übertragung über parallele Kanäle, die Abweichungen erkennen läßt.
Möglichkeiten der aktiven Redundanz sind z.B. die Wiederholung oder das sogenannte Echoverfahren, bei dem die übertragenen Daten sofort zum Sender rückübertragen werden.
Außerdem verfügt jedes strukturierte, mit einem Regelwerk versehene System über Redundanz, da strukturierende Regeln Hinweise auf zu erwartende Zustände geben. Diese Regeln vermitteln dem Systembenutzer, der mit den Regeln und Gesetzmäßigkeiten vertraut sein muß, ein Vorwissen über Auftretenswahrscheinlichkeiten.
Shannon und Weaver gingen bei ihren Überlegungen von einem anderen Verständnis der Information aus. So schreiben sie: „Insbesondere darf Information nicht der Bedeutung gleichgesetzt werden. Tatsächlich können zwei Nachrichten, von denen eine von besonderer Bedeutung ist, während die andere bloßen Unsinn darstellt, in dem von uns gebrauchten Sinn genau die gleiche Menge an Informationen enthalten. [...] Anders ausgedrückt: Information in der Kommunikationstheorie bezieht sich nicht so sehr auf das, was gesagt wird, sondern mehr auf das, was gesagt werden könnte“ . Mit anderen Worten: Ihre Überlegungen und damit ihre Definition der Information handeln allein von den syntaktischen Parametern der kommunikativen Übertragung. Die Bedeutung einer Nachricht (= eines Übertragungsprozesses) spielt für die Fragestellung Shannons und Weavers keine Rolle.
Dennoch wandten sie ihre Formel auf die natürliche menschliche Sprache an und kamen zu dem Ergebnis: „[...] daß etwa die Hälfte der in Sprache oder Schrift ausgewählten Buchstaben oder Wörter von uns frei gewählt worden ist, und die andere Hälfte (obwohl wir uns dessen gewöhnlich nicht bewußt sind) in Wirklichkeit durch die statistische Struktur der Sprache bestimmt ist“ . Für die deutsche Sprache kommt Küpfmüller nach Einbeziehung verschiedener Parameter zu der Erkenntnis: „Die Redundanz der deutschen Schrift ist also [...] 66%. Das bedeutet, daß zwei Drittel aller Buchstaben eines zusammenhängenden Textes überflüssig sind und sich aus dem übrigen Drittel ergeben“ . So prägnant eine Aussage wie diese klingt, so vorsichtig muß man bei ihrer Feststellung sein. Wenn das Ergebnis über die deutsche Sprache der Realität entspräche, dann wäre die redundanzfreie Variante des deutschen Kinderliedes (Nr. 3) „FhDhtiGeseoeg eieh!“ sofort und für jedermann problemlos zu verstehen!
Bedeutet das, es ist nicht möglich, die natürliche Sprache mit der Informationstheorie in Verbindung zu bringen? Wäre ich dieser Ansicht, so wäre mein Vortrag hiermit beendet. Meiner Meinung nach lassen sich aber die Ergebnisse der mathematischen Kommunikationstheorie von Shannon und Weaver durchaus für die Beschäftigung mit Sprache nutzen. Erfolgversprechend ist dies allerdings nur, wenn man den Umgang mit der Informationstheorie in der Art modifiziert, daß es für die Auseinandersetzung mit der Sprache nicht darum geht, gar nicht darum gehen kann, am Ende einen mathematischen Wert zu erhalten, der Aufschluß über ebendiese geben soll.
Man muß die menschliche Kommunikation als ein hochkomplexes, auf mehreren Ebenen fungierendes System von Übertragungskanälen betrachten. Der menschliche Organismus verfügt über entsprechende Komponenten (Sinne und einzelne Organe), um über die verschiedenen Kanäle Daten zu senden und zu empfangen (z.B. Stimmorgan und Ohren). Festgehalten werden muß, daß die Daten Bedeutung tragen. Man kann dies als Grundvoraussetzung jeder menschlichen Kommunikation betrachten, die immer präsent ist und von den Kommunikationsteilnehmern antizipiert wird. So schreibt Norbert Wiener: „The most important piece of information you can have about a message ist that it makes sense“
Mit dieser Tatsache ist jede Untersuchung menschlicher Kommunikation unter rein syntaktischen oder technischen Parametern, wie sie Shannon und Weaver vorgenommen haben, bereits im Ansatz falsch. Dennoch kann vom oben beschriebenen Kommunikationsmodell ausgegangen werden, allerdings mit der Prämisse, daß die übertragene Nachricht sinnhafte Daten überträgt. Dabei spielt es - zumindest für die Betrachtung der menschlichen Sprache und für die Linguistik - nicht unbedingt eine Rolle, exakte Werte für Redundanz- und Informationsgehalt des Sprachkodes oder einzelner Kommunikationsprozesse zu eruieren. Wichtig ist eine Differenzierung der Art, daß man von phonologischer, syntaktischer, semantischer Information oder Redundanz sprechen sollte.
Wenn man nun die verschiedenen Ebenen der Sprache untersucht, dann stellt man fest, daß die Sprache vielfach durch Redundanz gesichert ist. Die stärkste Sicherung und damit den höchsten Grad an Redundanz findet man auf der lautlichen Ebene. Alle beschriebenen Möglichkeiten zur Fehlersicherung werden in der lautlichen Realisation von Sprache verwendet und eingesetzt. Da Sprache auf dieser Ebene am störanfälligsten ist, macht eine solche Sicherung großen Sinn. Die Fehlerresistenz wurde durch elektrotechnische Versuche bewiesen und durch ein interessantes Experiment untermauert: 20 Studierenden wurde der Satz „The state governors met with their respective legislatures convening in the capital city“ vorgespielt. Vorher wurde allerdings eine 120 msec lange Stelle gelöscht und durch ein kurzes Husten derselben Länge ersetzt. Wie sich herausstellte wurde dabei das erste /s/ von „legislatures“ zusammen mit Teilen der angrenzenden Phoneme, die einen Übergang andeuten könnten, gelöscht. Den 20 Teilnehmern des Experiments wurde nach der Hörprobe der geschriebene Satz mit der Aufgabe vorgelegt, die Stelle einzukreisen, an der das Husten zu hören war. Außerdem sollten sie angeben, ob durch das Störgeräusch mehr oder minder vollständig ein Laut überdeckt worden war. Das Ergebnis war verblüffend, da keiner der Versuchsteilnehmer in der Lage war, die Stelle des Störgeräuschs exakt ausfindig zu machen. 19 der Teilnehmer waren sogar der festen Ansicht, daß alle Laute vollständig zu hören waren (ein Teilnehmer bezeichnete ein falsches Phonem als das fehlende).
Der Buchstabe als kleinste sprachliche Einheit der Schriftsprache ist nicht in dem gleichen Maße redundant wie die Laute oder die Phoneme. Hierfür besteht keine Notwendigkeit, da die Schriftsprache nicht so störanfällig ist wie die Lautsprache. Hier tauchen Redundanzen in viel geringerem Maße auf, sie betreffen in erster Linie die Kombination mit anderen Buchstaben und die der jeweiligen Sprache eigenen Auftretenswahrscheinlichkeiten. So ist es bspw. leichter, den verstümmelten Satz (Nr. 4) „D.. spr.chl.ch. .nf.rm.t..n .st n.cht gl..m.ß.g ..f d.n T.xt v.rt..lt“ zu ergänzen als den Satz (Nr. 5): „.ie ...a...i..e I...o..a.io. i.. .i... ..ei...ä.i. au. .e. .e.. .e..ei..“ Da der Energieaufwand bei der Verfassung eines schriftlichen Textes wesentlich größer ist als bei der akustischen Übertragung einer Nachricht und da die Störanfälligkeit eines Schrifttextes geringer ist, ist der Redundanzgehalt der Schrift bedeutend niedriger als bei der Lautsprache, was dem Streben nach ökonomischer Übertragung der Information entgegenkommt.
Auf das Prinzip größtmöglicher Ökonomie bei der Übertragung weist auch die Tatsache hin, daß auf der Ebene der Morpheme und der Lexeme die häufigsten und damit die am wenigsten informativen Wörter im Deutschen einsilbig sind. So ist nach Meiers Sprachstatistik das erste Wort mit mehr als drei Buchstaben „nicht“ auf Platz 8 (nach „die, der, und, in, zu, den, das“), das erste Wort mit mehr als fünf Buchstaben „werden“ auf Platz 39 usw.
Es gibt die nachrichtentechnische Forderung für die Etablierung eines Übertragungskodes mit einer Kodierung, „die den häufigsten Nachrichteneinheiten (die deshalb eine geringe Informationsmenge aufweisen) Signaleinheiten von kurzer Dauer und den Nachrichteneinheiten von geringerer Häufigkeit (mehr Information) Signaleinheiten von langer Dauer entsprechen läßt. Dem gleichen Ziel kann es dienen, wenn man den häufigsten Nachrichteneinheiten Kombinationen einer kleinen Zahl von Signaleinheiten und den weniger häufigen Kombinationen eine größere Zahl von Signaleinheiten zuschreibt“ . Die natürliche Sprache folgt exakt den genannten Vorgaben: die häufig verwendeten Wörter sind kürzer, längere und extrem lange Wörter tauchen in gewöhnlichen Texten eher selten auf, so bilden z.B. „Im Englischen [...] die 50 häufigsten Wörter [...] durchschnittlich 50% des Textes“ .
Auch auf den übrigen sprachlichen Ebenen finden sich bei den verschiedenen sprachlichen Elementen Redundanzen der unterschiedlichen Art. Sie alle dienen dem einen Zweck, Bedeutung zu übertragen und diese Übertragung gegen Fehler bei der Rezeption zu sichern.
Shannon und Weaver haben diese Tatsache nicht in ihre Überlegungen einbezogen und sich nicht mit der semantischen Seite der Kommunikation beschäftigt. Der Grund wird schnell deutlich: Der Semantikgehalt einer beliebigen Nachricht ist keine feststehende, berechenbare Größe von allgemeiner Gültigkeit. Ein und dieselbe Nachricht hat unter verschiedenen Umständen unterschiedliche Bedeutungswerte, ein und dieselbe Nachricht kann bereits im konkreten Übertragungsprozeß verschiedene semantische Wertigkeiten besitzen (von Konnotationen und affektiven Inhalten ganz zu schweigen). Allerdings sind bereits kleinere sprachliche Einheiten als der Satz in ihrer semantischen Dimension beliebig, da schon die Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant eine beliebige, arbiträre ist. So findet sich in der Beziehung Zeichen-Bedeutung keinerlei Redundanz, denn Redundanz tritt da auf, wo feste Regeln dem Benutzer Vorinformationen bezüglich der Auftretenswahrscheinlichkeit von Elementen geben. Doch gibt es keine Regel, welche beispielsweise nachvollziehbar oder vorhersehbar das lautliche (bzw. graphische) Gebilde „Wollsackverwitterung“ mit der Bedeutung „Verwitterungserscheinung in groben, ungeschichteten Massengesteinen [...], die von drei senkrecht aufeinanderstehenden Kluftsystemen durchzogen werden“ verbindet und so zu einer erwartbaren Größe machen würde. Das Verhältnis der beiden sprachlichen Ebenen zueinander ist hochinformativ, weil in keiner Weise berechen- und damit vorhersehbar . Das Wissen über diese Verbindungen muß mühevoll erlernt werden (s. das Vokabellernen bei Fremdsprachen), da es hierfür keine Regeln gibt. Dementsprechend ist eine Grundvoraussetzung für jede erfolgreiche Form von Kommunikation die Kenntnis des verwendeten Zeichensystems auf beiden Seiten der Übertragung (d.h. bei Sender und bei Empfänger). Ansonsten ist keine Kommunikation möglich: „Wenn Herr X nicht zu verstehen scheint was Herr Y sagt, so ist es theoretisch nicht möglich, daß diese Situation, solange Herr Y weiterhin nur mit Herrn X redet, in einer endlichen Zeit geklärt werden kann. Wenn Herr Y sagt: ‘Verstehen Sie mich jetzt?’ und Herr X erwidert: ‘Ja, natürlich’, so ist dies nicht unbedingt ein Beweis dafür, daß die Verständigung erreicht wurde. Es kann ja möglich sein, daß Herr X die Frage nicht verstanden hat. Falls dies lächerlich klingt, so stellen Sie sich einmal folgenden Dialog vor: ‘Czy pan mnie rozumie?’ und der Antwort: ‘Hai wakkate imasu’.“ Ergänzt wird dieses Beispiel durch eine nette Anekdote: „Als Pfungst 1911 nachwies, daß die Pferde von Elberfeld, die erstaunliche sprachliche und mathematische Fähigkeiten zeigten, lediglich auf die Kopfbewegungen ihres Dompteurs reagierten, begegnete ihr Eigentümer, Herr Krall, dieser Kritik auf eine sehr direkte Art. Er fragte die Pferde, ob sie solch kleine Bewegungen überhaupt erkennen könnten, worauf sie nachdrücklich mit ‘Nein’ antworteten“ .
Für eine erfolgreiche Kommunikation müssen also drei grundsätzliche Bedingungen erfüllt sein: (1) Die übertragene Zeichenfolge muß vom Empfänger korrekt empfangen werden. Die verschiedenen sprachlichen Ebenen sind durch ihre immanente Struktur sowie durch das Regelwerk ihrer Kombinierbarkeit äußerst störungsresistent, so daß diese Bedingungen in der Regel erfüllt ist. Gelingt der korrekte Empfang nicht vollständig, so kann dies als Fehler erkannt und häufig korrigiert werden. (2) Der gedankliche Gehalt muß rekonstruiert werden. Ist dies nicht möglich wie z.B. beim Hören fremder Wörter oder einer fremden Sprache, so wird die Nachricht oder Teile davon nicht verstanden, das Unverständnis ist dem Empfänger bewußt und es besteht die Möglichkeit zur Wiederholung bzw. Modifikation der Nachricht von seiten des Sprechers. (3) Der rekonstruierte Gehalt muß mit dem vom Sender intendierten weitgehend übereinstimmen. Diese Bedingung ist die problematischste, wenn sie nämlich nicht erfüllt wird, dann kann das Mißlingen auf der Seite des Rezipienten oft nicht als solches erkannt werden und es kommt zum ‘Mißverstehen’ mit womöglichen Konsequenzen.
Für die sprachliche Ebene der Semantik läßt sich sagen, daß der Kontext sowie die Perspektive für die jeweilige kommunikative Äußerung den Grad an semantischer Redundanz determiniert, der ihr innewohnt. Das bedeutet auch, daß eine Aussage durchaus unterschiedliche Grade an Redundanz aufweist, was vom jeweiligen Blickwinkel abhängt. Die Frage, wie sich Sprache gegen semantische Mißverständnisse sichert, läßt sich so beantworten: Durch ein hohes Maß an Wahlfreiheit auf seiten des Senders bei der Verwendung sprachlicher Mittel für die Bedeutungsübertragung kann dieser individuell und spontan der jeweiligen Situation angemessen entscheiden, welche ihm zur Verfügung stehenden kommunikativen Mittel und damit welches Verhältnis von Redundanz und Information ein optimales und möglichst senderintendiertes Verständnis auf seiten des Empfängers gewährleisten. Es wird deutlich, „daß [...] das Maß an (lexikalischer und/oder stilistischer) Redundanz weitgehend vom Sprecher gesteuert werden kann. Ähnliches gilt für das Ausmaß an grammatischer oder sprachsystematischer Redundanz auf der textuellen Ebene. Auf den übrigen sprachlichen Ebenen wird die Enkodierungsfreiheit des Sprechers hinsichtlich der Redundanz immer geringer. Während er auf syntaktischer und semantisch-lexikalischer Ebene noch bis zu einem gewissen Grad willkürliche Entscheidungen treffen kann, ist er auf morphologischer und phonologischer Ebene an Strukturregeln gebunden, die ihm keine Einflußnahme auf die Redundanz in diesen beiden Ebenen gestatten.“
Verschiedene Aspekte der Sprache wurden bereits unter informationstheoretischen Parametern untersucht. So gibt es verschiedene Untersuchungen, wie man Texte durch Eliminierung redundanter Elemente lesbarer machen kann. Auch die Bedeutung der Redundanz für den Erstspracherwerb wurde bereits wissenschaftlich betrachtet.
Abschließend läßt sich feststellen, daß eine Beschäftigung mit den informationstheoretischen Merkmalen für das Verständnis von Sprache und ihrer Struktur äußerst fruchtbar ist (auch wenn vieles hier und heute nicht einmal angerissen werden konnte). Sinnvoll ist es jedoch, nicht auf mathematische Formeln zum Zweck der Bestimmung exakter Werte zurückzugreifen, da sich diese Vorgehensweise als eher abträglich bei der Betrachtung sprachlicher Erscheinungen gezeigt hat. Es scheint ergiebiger, bei der Beschäftigung mit Sprache im sprachlichen Diskurs zu verbleiben. Damit gelangt man zu einem erweiterten, vielleicht besseren Verständnis der Gegebenheiten des Sprachsystems.
Redundanz ist bedeutend besser und wichtiger als ihr Ruf. Bei genauer Betrachtung stellt sich heraus, daß sie in der Regel sogar wichtiger ist als Information, um erfolgreiche Kommunikation zu vollziehen. So schreibt Moles: „Redundanz erscheint danach als eine wichtigere Größe innerhalb der menschlichen Kommunikation als selbst die Information“ . Und eine Nachricht, die ausschließlich aus Redundanz besteht, kann immer noch dekodierbare Bedeutung enthalten, was bei einer rein aus Information bestehenden Nachricht nicht möglich ist.
Wie Colby feststellt, ist es nicht allein die Sprache, die um ein ausgewogenes Verhältnis von Information und Redundanz bemüht ist, was nicht zuletzt die Bedeutung der angestellten Betrachtungen unterstreicht: „Man kann also sagen, daß Leben im allgemeinen ein Gleichgewicht sucht mit ungefähr 50% Redundanz - ein Gleichgewicht zwischen dem Neuen (unerwarteten) und dem Alten (vorhersagbaren), zwischen Chaos und Organisation“ („One may say then that life in general [...] seeks an equilibrium of about 50 per cent redundancy - an equilibrium between the new (unexpected) and the old (predictable), between disorganization and organization“) .





BEISPIELE FÜR DEN VORTRAG „SPRACHE UND INFORMATION“


Beispiel 1:

Beispiel 2:

000; 001; 010; 011; 101; 111



Beispiel 3:

FhDhtiGeseoeg eieh!



Beispiel 4:

D.. spr.achl.ch. .nf.rm.t..n .st n.cht gl..m.ß.g ..f d.n T.xt v.rt..lt



Beispiel 5:

.ie ...a...i..e I...o..a.io. i.. .i... ..ei...ä.i. au. .e. .e.. .e..ei..

Never trust the hype (1999)

Es gibt in meiner Generation einen Spruch, so etwas wie eine Lebensweisheit für den Umgang mit Kultur im weitesten Sinn. Er lautet: „NEVER TRUST THE HYPE“. Seine Bedeutung kann man so erklären, dass jedes Kunstprodukt, sei es ein neuer Film, ein Star, eine Musikgruppe, ein Lied, sich verdächtig macht, wenn es immer wieder angepriesen und genannt wird. Es gibt beispielsweise bei den Musiksendern im Fernsehen das Verfahren der „Heavy Rotation“, bei dem ausgewählte Lieder permanent gespielt werden, was zwangsläufig zu ihrem Erfolg (nachlesbar an den Verkaufszahlen) führt und damit ihre erhöhte Präsenz im Nachhinein legitimiert. In der Filmbranche ist es nicht anders. Filme von großen Verleihfirmen werden zum Teil schon länger als ein halbes Jahr im Voraus angekündigt und die Werbung flächendeckend in allen Medien eingesetzt.
Erfolg ist also machbar und planbar. Der genannte Spruch steht für eine Gegenstrategie, die sich solchen Verfahren widersetzt. So mancher Anhänger dieser Aussage kauft und hört also grundsätzlich keine Musik, die in populären Radio- und Fernsehsendern gespielt wird und verfährt entsprechend mit anderen Medienprodukten. Und es stellt sich in der Tat heraus, dass neue Erfahrungen und interessante Entdeckungen - wenn es solche in der Welt der Medien überhaupt noch gibt - nur weit abseits von Verkaufszahlen und Bestenlisten zu machen sind. Denn das, was sich gut verkauft, ist per definitionem „Mainstream“, mit anderen Worten massenkompatibel, und damit für Innovationen und Entwicklungen nicht zugänglich.
In diesem Jahr befinden wir uns im Goethe-Jahr. Das bedeutet: Wo man geht und steht wird man von Goethe-Partikeln umweht - ob man will oder nicht. Es gibt Goethe-Symposien, Goethe-Lesungen, Goethe-Seminare, Goethe-Abende, Goethe-Festivals, ganz zu schweigen von der Flut an Neuveröffentlichungen zu Goethe und allem, was dazugehört. Mit anderen Worten: Wir erleben gerade den ultimativen Goethe-Hype. Dabei kann und will ich Herrn Goethe mit seinen 250 Jahren keinen Vorwurf machen, er ist frei von Schuld. Darum geht es mir auch nicht. Was ich möchte, ist meinem Unbehagen Ausdruck zu verleihen. Ein Unbehagen, das immer dann auftritt, wenn etwas über alle Maßen angepriesen wird und sich als berühmt und überaus erfolgreich präsentiert. Natürlich hat es mich gefreut, als eine japanische Studentin im Fernsehen den Werther auf japanisch vorgetragen hat und genauso freut es mich jetzt, dass ich endlich das Geburtsjahr Goethes nicht mehr nachschlagen muss, sondern einfach die 250 Jahre zurückrechnen kann. Alles angenehme Dinge. Ich muss auch gestehen, dass ich in diesem Jahr wahrscheinlich mehr von Goethe gelesen habe als in meinem ganzen Leben vorher. Die Folgen der „Heavy Rotation“ gehen auch an mir nicht spurlos vorbei. Schön und gut, doch das Unbehagen bleibt, ob all die Energie, die für die Zelebrierung des Goethe-Jahres aufgebracht wurde und wird, nicht besser anderweitig eingesetzt wäre?
Wenn ich mich an mein Studium erinnere, dann waren es nicht die Goethe-Seminare, die interessant waren und die ich länger besucht habe. Schließlich konnte ich all das bequem in jeder Bibliothek nachlesen, wo sich die Sekundärliteratur zu Goethe mittlerweile in Kilometern abmessen lässt. Nein, dankbar war ich jenen Dozenten, die mir andere Literatur nahe brachten, Literatur, die ich nicht schon aus dem Gymnasium kannte und Autoren, von denen ich zum Teil noch nie gehört hatte. Für die „Nachtwachen von Bonaventura“ (von August Klingemann) und die „Biographien der Wahnsinnigen“ (von Heinrich Spieß) hätte und habe ich jedes Goethe-Seminar sausenlassen und für die Vorlesungen über Hans Erich Nossack und Hans Henny Jahnn überließ ich Werther seinem Schicksal.
Diese Entscheidung beinhaltete niemals ein qualitatives Urteil, ich war nicht der Ansicht, dass die einen besser wären als die anderen. Für mich aber waren die, über welche schon Generationen von Germanisten stapel- und kistenweise Bücher mit Überlegungen und Analysen angefertigt und veröffentlicht hatten, schlicht und einfach die weniger Interessanten. Zum einen sicherlich aus dem oben beschriebenen Grunde, weil so viele Menschen diese Autoren kannten und schätzten, zum anderen aber auch, weil es mein Wunsch war, das Studium für die Entdeckung der anderen, der weniger bekannten Literatur zu nutzen und mich eher mit den abseits stehenden Autoren zu beschäftigen. Und auch heute noch ist meine feste Überzeugung, dass es eine wichtige Aufgabe des Literaturwissenschaftlers ist, die unbekannten Literaten mit ihren Werken der Vergessenheit zu entreißen und sie dem Leser wieder zugänglich zu machen, eine wichtigere Aufgabe vielleicht, als die 250. Arbeit über den Werther oder die Iphigenie zu verfassen.
Denn auch im Diskurs der hohen Literatur lauern die Gefahren des „Hypes“. Hochschulprofessoren schreiben Arbeiten über die Autoren, von denen sie in ihrem Studium gelernt haben, dass dieses die bedeutenden Autoren sind. Mit ihren Arbeiten und damit durch die Erweiterung des Bestandes an Sekundärliteratur betonen und unterstreichen sie diese Bedeutung. Gleichzeitig lehren sie in ihren Seminaren, dass diese Autoren von größter Bedeutung für die Nationalliteratur sind. Der Kreis schließt sich und viele Autoren, die in ihrem Schaffen oft nicht schlechter, manchmal besser sind, bleiben außen vor. Ein gutes Beispiel hierfür ist sicherlich Hans Henny Jahnn (1894-1959). Für sein erstes Werk, das 1916/17 geschriebene Drama „Pastor Ephraim Magnus“, erhielt er 1920 den renommierten Kleist-Preis. Sein erster großer Roman, „Perrudja“ erschien 1929 und wurde u.a. von Klaus Mann begeistert aufgenommen, der sagte, es stünde nicht hinter „Berlin Alexanderplatz“ zurück und der Jahnn mit Döblin und Joyce in einem Atemzug nannte. Jahnns Hauptwerk, der 1935-47 entstandene Roman in drei Teilen „Fluß ohne Ufer“, blieb bei seiner Veröffentlichung 1949-1952 ohne jede Resonanz. Erst mit dem Schritt von Botho Strauß, der das Preisgeld des ihm 1989 verliehenen Büchner-Preises für einen Lese-Wettbewerb über diesen Roman stiftete, begann sich eine Wende anzubahnen in der Rezeption Hans Henny Jahnns. Sein Roman wird mittlerweile bezeichnet als einer der großen Entwicklungsromane der deutschen Literatur, angemessen rezipiert wird er auch heute nicht, noch nicht einmal in der Germanistik. Das ist äußerst bedauerlich und wir sollten alles daransetzen, um die Vielzahl der missachteten, dabei nicht weniger guten Autoren der Vergangenheit aus dem Dunkel ans Licht zu holen, denn das ist doch eine der Aufgaben des Kulturwissenschaftlers, die Beschreibung und Bewahrung der Zeugnisse und Dokumente unserer Kultur. Wären die Archäologen nur in Rom geblieben, dann wäre Troja heute noch nicht entdeckt. Aus diesem Grund sei mein Appell an alle, die sich professionell mit Literatur und ihrer Vermittlung in Schule und Universität beschäftigen und beschäftigen werden: Geben Sie dem guten Herrn Goethe und den von Goethe längst übersättigten Studenten ihren wohlverdienten Frieden und richten Sie ihr Augenmerk auf die - im zweifachen Sinne - unüberschaubare Menge der Autoren, die uns heute wegen der Ignoranz unserer Lehrer und Professoren gar nicht oder nur vage bekannt sind und bereiten Sie sich schon vor auf die kommenden Gedenk- und Jubiläumsjahre, denn im nächsten Jahr ist der 50. Todestag von Albrecht Schaeffer, im darauf folgenden ebenfalls der 50. Todestag von Bernhard Kellermann, im Jahr 2002 der 125. Todestag von Friedrich Wilhelm Hackländer, im Jahr 2003 der 75. Todestag von Hermann Sudermann, der 125. Todestag von Karl Friedrich Gutzkow und der 200. Todestag von Wilhelm Heinse, im Jahr 2004 ist der 125. Todestag von Ludwig Anzengruber. Im Jahr 2005 begehen wir den 250. Geburtstag von Christian Heinrich Spieß und den 100. Todestag von Marcel Schwob, im darauf folgenden Jahr, 2006, den 50. Todestag von Max Beerbohm, im Jahr 2007 feiern wir den 150. Geburtstag von Hermann Sudermann und von Hermann Bang, sowie den 50. Todestag von Leo Perutz.
Lassen Sie uns also von nun an verstärkt an all die vergessenen Dichter denken, die aus manchmal unerfindlichen Gründen in Vergessenheit geraten sind und lassen Sie uns in unserer Arbeit mehr als bisher unser Augenmerk auf sie richten und sie damit zurückbringen in das Bewusstsein der Studenten und damit zurück in das Bewusstsein der Welt. Viele dieser Autoren verdienen es bestimmt, von uns „gehypt“ zu werden.

DER ROMANCIER ALS BRIEFTRÄGER oder Dracula und Post-Vampirismus: dekodiert (1991)

Sehr geehrter Herr D. ...

Adressiert man heute „Dracula“, so gelangt man an Vlad Draculea, genannt Ţepeş, d.h. der Pfähler [vgl. Ralf-Peter Märtin, S. 91]. Vor hundert Jahren aber bestand noch die Möglichkeit, den Grafen persönlich zu kontaktieren. Kein Geschichtsschreiber speiste den Besucher mit einem Fürsten aus der Walachei ab, der durchaus auch Interessantes zu bieten hat, jedoch ein normaler Sterblicher ist, der überdies mit dem herrschenden Postsystem nicht aufs Beste klarzukommen schien. Die Geschichte nämlich will es, dass zwei von Vlad Draculea verfasste Briefe (einmal an den türkischen Sultan Mehmed II. und einen an Stefan, dem Fürsten von der Moldau) kompromittierenden Inhalts dem ungarischen König Matthias Corvinus in die Hände fallen just in dem Moment, wo Vlad den König um militärische Hilfe bittet. Ob die Briefe, die Vlad Ţepeş am 7. November 1462 in Rhotel verfasst hat, gefälscht waren, wie es die rumänische Geschichtsschreibung sagt, oder nicht, bleibt, wie so vieles, offen. Ein Ergebnis aber haben die so genannten Rhotel-Briefe doch, nämlich Folgen für Vlad Ţepeş, zunächst einmal zwölf Jahre Haft in Buda und Visegrad (1462-1475) und dann schließlich, nach einem Intermezzo in Politik und auf dem Schlachtfeld, das bis zur Jahreswende 1476/77 währt, die Erfahrung, den eigenen Kopf als Postsache, sorgfältigst zur Konservierung in Honig gebettet, dem türkischen Sultan zur Bestätigung des eigenen Todes übersandt zu sehen [ebda., S. 141 und S. 156].
Wenn der irische Schriftsteller 1897 seinen Roman über den blutsaugenden Grafen veröffentlichen wird, so ist antiproportional zu dem veränderten Adelstitel das Verhältnis des Titelhelden zur Post ein anderes. Im Gegensatz zu seinem historischen Vorfahr (der er in Wahrheit ja selber ist) vermag der Graf Dracula nämlich, zumindest im ersten Teil des Romans, durchaus geschickt mithilfe der Post zu operieren. Was überdies in diesem Zusammenhang Post mit Operation zu tun hat ..., man wird sehen.

„Treten Sie frei und aus eigenem Entschluss ein!“
[vgl. Bram Stoker, S. 30 und S. 31. Der Graf macht diese Aussage beim ersten Eintreten von Jonathan Harker in sein Schloss. Damit drückt er die Bedingung aus, die immer vor Kontakt mit dem Vampir besteht. Wie Van Helsing noch ausführen wird, muss der Vampir in eine Wohnung hereingebeten werden, bevor er sich frei bewegen kann. Indem Harker „frei und aus eigenem Entschluss“ eintritt, ist er dem Grafen ausgeliefert. Gleiches gilt dem Leser des Romans!]

Der Roman beginnt, und wie es die Authentizität will, von einer recht bekannten Poststation aus, von Bistritz (S. 10). Leider aber nicht mit einem Brief, sondern mit den Tagebuchaufzeichnungen von Jonathan Harker, Anwaltsgehilfe, unterwegs in Sachen Dracula im Auftrag seines Chefs, des Londoner Anwalts Mr. Hawkins. Immerhin aber fasst Harker die Möglichkeit in Betracht, dass sein Tagebuch einmal Brieffunktion übernimmt:
„Sollte dieses Buch jemals vor mir selbst bei meiner Mina eintreffen, so möge es ihr mein Lebewohl sagen.“ (S. 15)
Diese Mina Murray, ihres Zeichens Verlobte von Jonathan Harker und gleichzeitig Hilfslehrerin, spätere Hüterin der gesamten Software des Romans, ist aber anderer Meinung über Tagebücher, wie sie ihrer Freundin Lucy Westenra brieflich versichert. Ihr Tagebuch, das sie zu führen gedenkt, wird
„für andere Leute (...) nicht bestimmt“ (S. 87)
sein. Doch auch Hilfslehrerinnen können irren.
In seinem ersten Tagebucheintrag bemerkt Jonathan Harker gleich, dass die Wohnstätte seines Gastgebers offensichtlich durch die Raster schriftlicher Landschaftserfassung gefallen ist: Keine Karte und kein Buch gibt die genaue Lage des Schlosses an (S. 10).
Der erste Kontakt Harkers mit dem Grafen aber erfolgt dann, wie um die Gewandtheit Draculas im Umgang mit postalischen Standards vom Anfang her direkt zu demonstrieren und um zu zeigen, dass Siebenbürgen sich nicht völlig jenseits aller (Wälder) schriftlichen Codes befindet, über einen Brief. Darin jedoch erfährt man, dass sich das Schloss des Grafen außerhalb des gewöhnlichen Postkurses befindet, jenseits womöglich davon (S. 13). Denn in der brieflichen Anweisung steht geschrieben, dass die Postkutsche, die allmorgendlich um drei Uhr in die Bukowina abgeht und in der diesmal ein Platz für Harker reserviert sein wird, diesen nur bis zum Borgopass fahren wird, wo die Kutsche des Grafen den Briten erwarten und zum Schloss bringen wird. Auch der Gastwirt erhielt einen Brief von Dracula mit der Anweisung, den besten Postkutschenplatz zu reservieren. Einzelheiten werden jedoch verschwiegen.
Jonathan Harker schreibt sein Tagebuch in Kurzschrift und auch der Kutscher von Draculas Gefährt (der Herr und Diener in Personalunion ist) verwendet Kurz-Schrift-Zeichen, wenn Wölfe die Kutsche bedrohen, er vom Bock steigt und dort, wo kleine blaue Flämmchen Lichtsignale geben, Steine zu einem Muster zusammenlegt (S. 26).
Zu diesem frühen Zeitpunkt bereits wird offenbar, dass der Graf sowohl die gewöhnlichen Mittel der Kommunikation beherrscht und zu nutzen weiß als auch Arten der Nachrichtenübermittlung für sich in Anspruch nimmt, die dem gewöhnlichen Menschen seiner Zeit weder geläufig noch brauchbar sind. Wenn Harker die Postkutsche verlässt und sich auf Draculas Gebiet begibt, dann gerät er auch an eine Macht, die andere Möglichkeiten der Datenübermittlung kennt.
Schließlich aber treffen der Graf und der Anwaltsgehilfe (der in Wahrheit auch schon ein Anwalt ist, wie ihn vor seiner Abreise aus London die Nachricht ereilte (S. 29)) aufeinander und Harker überreicht Dracula den versiegelten Brief seines Vorgesetzten, womit der Grundstein zu Harkers Rolle als Daten-Pool verbrieft ist. Obwohl diese Tatsache allein schon durch Harkers Existenz, zumal an diesem Ort, in dieser Gesellschaft, wie vorgezeichnet scheint.
Zunächst aber zeigt sich der Graf nicht dröge und legt Harker Zettelchen aus, auf denen er nichts als seine Abwesenheit bestätigt (so geschehen am 6. Mai). So spendabel wird sich der Graf lange nicht mehr zeigen (genau genommen, überhaupt nicht mehr!). In der Bibliothek des Schlosses treffen beide wieder aufeinander, noch bevor Harker die Regale voll englischer Bücher, Zeitschriften und Zeitungen nutzen könnte (was bleibt, ist die erneute Bestätigung des mühelosen Umgangs Draculas mit (westeuropäischer) Schriftkultur), stattdessen aber wird der Graf bei seinem Gast bzw. dessen Kenntnissen aus dem Vollen schöpfen und für sich herausholen, was möglich ist (eines nach dem andern aber!). zwischendurch allerdings erzählt der Graf auch ein wenig von sich und der Vergangenheit seines Landes (die natürlich seine eigene ist!).
Nach vielen wunderlichen Begebenheiten, die sich zu einem großen Rätsel für Harker zusammenfügen (das vielleicht in die Frage münden könnte: Was kann man noch aus einem jungen Anwalt herausholen außer Informationen?), das zunächst jedoch Rätsel bleiben wird, greift Dracula in die postalische Autonomie Harkers ein, indem er ihm befiehlt, Briefe nach Hause zu schreiben über die Dauer seines Aufenthalts beim Grafen und über sein Befinden (zu ersterem noch einen Monat und zu letzterem „Bestens“, beide Punkte finden Harkers Zustimmung nicht, was er nicht publik macht!), über den Inhalt hinaus beliefert Dracula seinen Gast auch mit der erforderlichen Hardware, es gibt drei Briefbögen und -umschläge
„von feinstem ausländischen Papier“ (S. 55),
wobei die Zahl nichts über die Anzahl aussagt, Harker nämlich schreibt zwei Briefe, förmlich, im Sinne Draculas, an Mr. Hawkins und an Mina, die Verlobte. In Gedanken aber schreibt er vier Briefe, zusätzlich zu den offiziellen, noch einen ausführlichen an Mr. Hawkins und einen stenographierten an Mina Murray. Wie man es also dreht, der Graf liegt falsch mit seinen drei Umschlägen und Bögen!
Zunächst aber werden unverfängliche Briefe geschrieben, von den anderen kein Wort, noch nicht einmal zum Tagebuch. Von den förmlichen Briefen wird man später noch erfahren, zumindest von einem, dann nämlich, wenn Mina Murray am 9. mai ihrer Freundin Lucy Westenra schreibt, dass sie
„ein paar (...) Zeilen von Jonathan aus Transsilvanien erhalten“ (S. 87)
hat.
Bevor der Graf Harker noch ein zweites Mal um irreführendes Briefschreiben bitten wird, diesmal aber mit detaillierteren Angaben als vorher, träumt Harker sich zurück in frühere Zeiten, wo blonde Damen mit roten Ohren Liebesbriefe verfassten (S. 60f.). Leider aber hat der Minnesang längst abgedankt, die Gothic Novel, zum Ärger Harkers, offenbar noch nicht. So muss er sich in einem verfallenen Schloss mit einem langzahnigen, übel riechenden Grafen herumärgern, der ihm befiehlt, Briefe über verschiedene Stadien seines Abreisens an die Lieben daheim zu verfassen, obwohl sich der Radius seiner Fortbewegung nicht über die Außenmauer des Schlosses erstreckt (sondern genau bis zur Außenseite derselben und nicht weiter). Doch wer die Macht hat, hat auch das Monopol der Wahrheit (so es eines gibt), und deshalb wird Draculas Wunsch postalisch verbriefte Wahrheit.
Der Versuch Harkers, mithilfe anderer Nachrichtensysteme als dem einen, offiziellen, das ja über den Grafen läuft, die vorher gegebenen Botschaften zu relativieren, muss fehlschlagen, denn nur Vampire sind befugt, andere als den einen Postkurs für sich in Anspruch zu nehmen und den einen nach Belieben zu türken/“wallachen“. So werden die geheimen Briefe von Harker an Hawkins und an Mina, letzterer in Kurzschrift, von den Zigeunern an Dracula übergeben (S. 69). Der stenographiert wird, weil für Dracula unleserlich, von ihm augenblicklich vernichtet, der andere aber Harker ausgehändigt, damit er ihn neu versiegeln und absenden kann (diesmal natürlich über den richtigen Kanal).
Daran aber hat Harker kein Interesse, weil dieser Brief wichtige Informationen nicht mehr enthält.
Drei Tage später dann sind alle Übertragungsmaterialien verschwunden, Papier und Umschläge, selbst das letzte Papierschnitzelchen aus Harkers Tasche (S. 70f.), alle Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung, die eigentlich schon vorher unmöglich war, oder eine Hoffnung endgültig genommen. Wie Harker feststellen muss, ist auch seine Reisekleidung entwendet, somit also auch die Selbstverschickung behindert, kein Entrinnen, weder im Geist noch in corpore möglich. Doch obwohl es keinen Ausweg mehr gibt und, schlimmer noch, die
„verhängnisvolle (...) Reihe“
der eigenhändig geschriebenen, vordatierten Briefe,
„die alle Spuren (der) Existenz auf dieser Welt auslöschen soll“ (S. 75)
seinen Lauf nimmt, ist der Roman und sein momentaner Protagonist noch lange nicht am Ende (sondern im ersten Fünftel!).

Dead Letter Office

Ein Schnitt und anstatt im Harkerschen Tagebuchnetzwerk befinden wir uns im Getriebe der britischen Staatspost: Mina Murray schreibt ihrer besten Freundin Lucy Westenra (s.o.). Von misstrauisch machenden, informativen Zeilen in Kurzschrift ist nicht die Rede, also wohl auch nicht in dem Brief von Harker, den Mina erwähnt.
Tags darauf erhält sie die Antwort von Lucy, an einem Mittwoch (einziger nicht ordnungsgemäß datierter Brief, einziger genannter Wochentag!), die von Männern berichtet und dem Lesen des einen in Gesichtern anderer (außer dem der Briefschreiberin, die durch Spiegelselbstreflexionen immun ist). Dann am 24. Mai ein weiterer Brief Lucys an Mina, worin sich für einen Brief bedankt wird, der dem Leser nicht vorliegt. Es stellt sich die Frage nach dem Großen Ordner und Arrangeur von Brief- und anderem Schriftmaterial, die Frage nach dem Puppenspieler, der diesmal nicht die Fäden, aber den Reißwolf und die Schere in der Hand zu halten scheint und ganz nach Belieben Informationen verteilt oder wegfallen lässt. Womöglich ist man hier dem vielgerühmten „Geist der Erzählung“ auf der Spur, der jetzt aber nicht die Glocke schlägt, sondern Briefe sichtet.
Der nächste Abschnitt führt ein in eine neue Dimension der Datenübertragung, der phonographischen nämlich. Dr. Seward, Psychiater und Gesichterleser führt ein akustisches Tagebuch, seine Notizen sind Seufzer und Rufe, würde der disziplinierte Naturwissenschaftler nicht sachlich Fakten in die Wachswalze kratzen, sein Phonograph nämlich ist offen für jede Art von Geräusch [vgl. Friedrich A. Kittler, 1986, S. 44, 56 u.a.]. Briefe und Telegramme werden ausgetauscht zwischen den im zweiten Brief von Lucy Westenra durchnummerierten Männern.
Es folgen erneut Tagebuchgeschehnisse, vermerkt von Mina Murray in Whitby an der Nordseeküste. Minas Vorliebe besteht im Sitzen an einem Küstenfriedhof. Dort wird sie mit der Behauptung konfrontiert, dass Grabsteine die Funktion von Personalausweisen haben, die beim Jüngsten Gericht zu erkennungsdienstlichen Zwecken vorzulegen sind (wie bei jedem anderen Gericht auch). Aber nicht allein das, denn Grabsteine können auch falschen Inhalt deklarieren, so dass sich der Absender, der Familienangehörige also, wohl so manches Mal wunderte, wüsste er, was in dem Paket sich befindet (S. 104).
Am gleichen Tag beklagt sich Mina darüber, noch immer keine Nachricht von Jonathan erhalten zu haben und befürchtet deshalb das Schlimmste. Dabei hat die Vergangenheit (S. 54 und S. 67) gezeigt, dass die Gleichung Brief = wohlbehalten und in guter Verfassung nicht richtig ist. Mina Murray ist zu diesem Zeitpunkt aber noch so ahnungslos, vertrauend auf das Briefgeheimnis, das in direkter Linie auf Testamente verweist [vgl. Adolph Friedlaender, S. 758], was zu denken gibt (aber, wie gesagt, Mina Murray ist ahnungslos, auch über derlei Zusammenhänge!).
Wenig später, am 26. Juli, erhält Mina endlich Nachricht von Jonathan, über Mr. Hawkins, der ihr den Brief auf ihre briefliche Anfrage hin zusendet. Es ist der zweite der verhängnisvollen Triade, die Harker von Dracula aufgezwungen worden ist. Von dem ersten Brief der Kette ist keine Spur und keine Rede. Mina Murray aber fällt nicht herein auf die Tricks eines uralten Grafen, das Verbundsystem mit ihrem Verlobten ist scheint’s schon so eingespielt, dass sie Falschmeldungen als solche enttarnt. Also vermerkt sie:
„Dies ist nicht seine Art. Ich verstehe es nicht und es beunruhigt mich.“ (S. 112)
Dabei hatte sie sich von einer Nachricht eigentlich genau das Gegenteil, nämlich Ende der Unruhe erhofft. Tags darauf wieder die gleiche Klage,
„Noch immer keine Nachricht von Jonathan.“ (S. 113)
Und jetzt wünscht sie sich, er würde ihr nur eine einzige Zeile schreiben, sie wäre zufrieden. Obwohl genau das eigentlich nicht seine Art ist, wie sie am Vortag beunruhigt konstatierte. Wie man’s auch anfängt, Jonathan ... Mit anderen Worten: Nun ist Mina ein ungewöhnlicher (gefälschter) Brief lieber als gar keiner.
Tage später noch immer das Problem, ohne Nachricht von Harker zu sein und erneuter Zweifel an dem einen Brief,
„(...) obwohl es Jonathans Handschrift ist.“ (S. 113)
Weil am 6. August noch immer keine Nachricht eingetroffen ist, klebt Mina Murray am 8. einen Zeitungsausschnitt in ihr Tagebuch (denn Nachrichten müssen sein) über ein Schiff namens „Demeter“ mit genau dem Inhalt, jedoch nicht griechischer, sondern rumänischer bzw. siebenbürgischer Erde. Es folgt das traurige Schicksal des Kapitäns mit seiner Mannschaft, aufgezeichnet im Logbuch des Schiffes, übertragen in Mina Murrays Tagebuch, gedruckt im Roman. Am 4. August enden die Aufzeichnungen des Kapitäns und in der Nacht vom 10. zum 11. August beobachtet Mina, wie ihre somnambule Freundin Lucy von Dracula zwischen den Grabsteinen am Hals geküsst wird (S. 139). Die roten Punkte am Hals geben Zeugnis davon. Denn wie vormals dem Kaiser ist auch nur dem Grafen Dracula das Schreiben mit roter Tinte gestattet, und Fachmänner sind im Bilde (Professor Van Helsing auf S. 184). Ob Dracula damit Lucy seinen Stempel aufgedrückt, sie quasi entwertet hat oder ob er damit seine (Brief-)Marke auf die Weiße ihres Halses gedrückt hat, um so die weitere Fortbewegung im System der Untoten (bzw. in seinem Übertragungssystem) zu ermöglichen, bleibt Sache der Interpreten. Fest steht, dass er Lucys Datenübertragungssystem (d.h. Blutkreislauf) angezapft hat. All das weiß Mina Murray nicht (Sekretärinnen haben das zu speichern und zu vervielfältigen, was andere wissen), sie glaubt sogar, dass sie selber die roten Punkte an Lucys Hals verursacht hat (z.B. durch unvorsichtiges Hantieren mit einer Sicherheitsnadel). Doch auch sie wird noch eines Besseren belehrt werden. Was in Lucys Gedächtnis aus jener Nacht verbleibt, sind eben die zwei roten Punkte, allerdings erinnert sie damit die Augen des Vampirs (die überdies auch Mina aufgefallen sind) und nicht ihren eigenen Hals (S. 143). Dennoch, die Verbindung ist hergestellt, der Verursacher ist zugleich Inhaber zweier roter Punkte!
Dann endlich, am 19. August, erhält Mina Nachricht von Jonathan Harker, erneut über Mr. Hawkins. Eine Schwester Agathe aus Budapest schreibt am 12. August über Harkers Schwäche und die Mysterien seiner Krankheit, letztere allerdings im Postskriptum, ohne Wissen Harkers (S. 150f.). Auf die Nachrichtenübermittlung folgt die personelle, Mina fährt nach Budapest, um von dort aus Lucy einen Brief zu schreiben. Darin wird von Harkers Tagebuch erzählt, das Mina unter sein Kopfkissen legt, und dass später beide getraut werden, Harker mit dem Vampir (im Tagebuch) im Rücken (S. 159)! Der Segen des Grafen ist ihnen gewiss! So wird später auch Mina die Bluttaufe von Dracula auferlegt, fast alle kirchlichen Sakramente liegen somit in Händen des Grafen.
Daheim in England währenddessen schreiben sich die verschiedenen männlichen Protagonisten Briefe und Telegramme (31. August: Brief von Arthur Holmwood an Dr. Seward; 1. September: Telegramm von A. Holmwood an Dr. Seward; 2. September: Brief von Dr. Seward an A. Holmwood; 2. September: Brief von Dr. Van Helsing an Dr. Seward; 3. September: Brief von Dr. Seward an A. Holmwood; 4., 5. und 6. September: Telegramm von Dr. Seward an Van Helsing usw.). Festzustellen ist die Verwendungsart der verschiedenen Nachrichtenmedien, je nach Dringlichkeit wird Tagebuch, Brief oder Telegramm verwendet. Auf das Telefon wird nicht zurückgegriffen, im gesamten Roman wird es nur einmal in Anspruch genommen, genau dann, wenn Jonathan Harker die verschiedenen Lagerplätze der Särge Draculas ausfindig machen will. Zur Überprüfung der Angaben im Auftragsbuch der Speditions-Firma telefoniert die Hauptverwaltung mit der Zweigstelle in King’s Cross (S. 330). Offenbar scheint man sich über die Möglichkeiten des Fernsprechers noch nicht im Klaren zu sein, denn dann wäre wahrscheinlich öfter darauf zurückgegriffen worden. Andererseits sind telefonisch geführte Konversationen nach Beendigung des Gesprächs auch am Ende, nämlich weg, was für einen Roman, der auf einer Ansammlung schriftlichen Materials bzw. schriftlicher Dokumente beruht, Schwierigkeiten mit sich bringen könnte. Also, keine Telefonate (das eine zählt fast nicht) im Brief- und Telegrammroman!
Bluttransfusionen werden vorgenommen, um Lucy vor dem Einfluss Draculas zu retten (reihum jeder Männer gibt einmal sein Blut, also Dr. Seward, Professor Van Helsing, Arthur Holmwood, Quincy Morris).
Am 11. September dann wird die Post endgültig aktiv im Kampf gegen den Vampir, Dr. Van Helsing erhält ein Päckchen aus Harlem, NL, gefüllt mit frischen Knoblauchblüten, damit wird Lucys Zimmer und sie selbst gegen den Grafen präpariert (S. 194-196). Weil aber auf nichts weniger als auf die Post Verlass ist, erreicht ein dringendes Telegramm von Dr. Van Helsing den Dr. Seward 24 Stunden zu spät und das Verhängnis hat seinen Lauf genommen (S. 209). Und während Dr. Seward auf dem Weg zu Lucy vermerkt:
„Ich werde eine Walze mitnehmen, damit ich meine Eintragungen auf Lucys Phonographen vervollständigen kann.“ (S. 210),
hat Lucy ihre letzten Notizen
„(...) und ich habe kaum noch genug Kraft zum Schreiben.“ (210)
schon aufgeschrieben. Wenn Seward und Van Helsing vor dem Hause der Westenras zusammentreffen und Van Helsing erfährt, dass sein Telegramm verspätet angekommen ist, steht für ihn, genau wie für den Postboten das Angekommensein der Post mit dem Einwerfen in den Türschlitz klar ist, fest,
„Dann, fürchte ich, sind wir zu spät gekommen. Gottes Wille möge geschehen.“ (S. 215)
Im ganzen Chaos, das das verspätete Eintreffen der Doktoren ermöglicht hat, denkt Seward praktisch, nämlich an den Totenschein für Lucys Mutter, die Opfer der Nacht wurde mit ihrer vorher schon angeschlagenen Gesundheit (S. 221).
Zwischenzeitlich schreibt Mina noch an ihre (mit anderen Dingen beschäftigte) Busenfreundin, was von dieser jedoch nicht registriert wird, die Briefe bleiben ungeöffnet. Darin ist nicht gerade von erfreulichsten Dingen die Rede, einmal, am 17. September, ist das Thema Mr. Hawkins’ Testament. Nebenbei fragt Mina auch nach dem Befinden von Lucys Mutter, die in der gleichen Nacht stirbt, und wünscht Lucy:
„(...) möge es Dir gut gehen!“ (S. 228),
was nicht passiert. Der andere Brief, am 18. September geschrieben, erzählt vom Tode des netten alten Mannes (S. 231).
Am 20. September dann steht auch in Dr. Sewards Tagebuch der Tod, zweifach gleich, Arthurs (der von nun an Lord Godalming heißt) Vater und Lucy, die trotz der vereinten Säfte der sie liebenden Männer nicht davonkommt und den Wechsel vom Fräulein zum Vampir perfekt vollzieht (S. 237).
Damit Mina Harker nicht weiter Briefe an Verstorbene schreiben muss (die dann zwar ungeöffnet bleiben, deren Inhalt aber trotzdem bekannt wird), schickt Van Helsing ihr ein Telegramm, in dem er die Nachricht vom Tode der beiden Damen Westenra übermittelt (S. 253).
Am 25. September berichtet die „Westminster Gazette“ von kleinen Kindern, die einer fremden Frau folgen und später mit der Markierung zweier roter Punkte am Hals zurückkehren. Die Kette lässt sich zurückverfolgen (was Van Helsing auch tut): Von den roten Punkten zu Lucys Hals, von da weiter zu Graf Dracula.
Einen Tag vorher beschließt Mina Harker, Jonathans Reisetagebuch per Schreibmaschine abzuschreiben,
„so dass die Aufzeichnungen auch von anderen gelesen werden können.“ (S. 261)
Und prompt fühlt sich der Leser direkt von Frau Mina Harker angesprochen, endlich klärt sich auch das Rätsel, weshalb das Reisetagebuch in Druckschrift und nicht in Hand-Kurzschrift vorliegt, wie es ja geschrieben wurde. Danke, Mrs. Harker! Auch ihr eigenes Tagebuch wird mit der Schreibmaschine abgeschrieben (S. 264).
Jonathan Harker beginnt erneut mit seinem Tagebuch, das nicht nur seine Frau, sondern er selber eigentlich auch schon abgeschrieben hatte:
„(...) dass ich je wieder in dieses Tagebuch schreiben würde“ (S. 273).
Er muss Van Helsing gestehen:
„Aber sie haben mich wieder geheilt, (...) durch den Brief, den Sie Mina gestern abend schrieben.“ (S. 274)
Briefe können, neben vielem anderen und wenn sie wollen, nicht nur töten (z.B. wenn sie zu spät kommen), sondern auch Wunder vollbringen und Menschen heilen, die bereits am eigenen Verstand zweifeln.
Am 26. September geht Van Helsing mit Seward das erste Mal auf den Friedhof, um Lucy zu betrachten. Er muss die Grabinschriften in der Gruft lesen, um Lucys Sarg zu finden (S. 286). Offenbar ist er gegenüber Grabsteinen bzw. –inschriften nicht so misstrauisch wie jener Alte an der Küste in Whitby (s. S. 104). Der Sarg ist, wie man ahnt, leer. Am nächsten Tag sind die beiden wieder in der Gruft, Lucy ist zurück, sie liegt im Sarg. Vor dem nächsten Besuch des Friedhofs werden die übrigen Herren (bis auf Jonathan Harker und den Grafen) verständigt. Van Helsing fragt in die Runde:
„Sie waren doch zweifellos über meinen Brief erstaunt?“ (S. 297)
Aber erstaunt sind nicht nur die Herren, sondern auch der Leser. Sollte es möglich sein und ist ihm wieder ein Brief unterschlagen worden?
Einmal bekommt er ungeöffnete Briefe zu lesen, ein anderes Mal werden solche, auf die direkt verwiesen wird, einfach vergessen!
Es folgt das dritte Friedhofsintermezzo, diesmal sind die Herren vollzählig (wieder bis auf Jonathan Harker und den einen, den Titelhelden!). Zunächst verklebt Van Helsing alle Ritzen und Spalten der Gruft mit Hostienteig. Wenn Lucy kommt, entfernt Van Helsing ein kleines Stückchen des Teiges, so dass eine schmale Lücke entsteht,
„(...) in die man kaum eine Messerklinge hätte stecken können.“ (S. 309)
Lucy aber drückt sich mühelos durch den Schlitz ins Innere der Gruft. Die Frage drängt sich auf: Ist der Vampir Lucy vielleicht ein Brief, dass sie durch eine so kleine Spalte gleiten kann? Der Schlitz als Briefkastenschlitz zumindest erinnert daran. Zu überlegen wäre dann weiterhin, ob die Gruft als Postkasten fungiert, in den man verschiedene Sendungen einwirft oder ob es sich hier um ein Zuhause handelt, der Schlitz somit Türschlitz, also Heimatadresse ist? Die Vermutung erhärtet sich, dass letzteres das Zutreffende benennt, denn die einzige Sendung, die immer wieder dort ankommt, ist der Vampir Lucy selbst. Frankiert ist sie ja bereits (durch die roten Punkte am Hals), zustellen muss sie sich aber offenbar selbst.
Am Abend darauf wird es vollbracht, die Sendung Vampir im eigenen Paket (Sarg) festgenagelt. Dass ausgerechnet mit einem angespitzten Holzpflock Vampire therapiert werden können, hat die Zunft offenbar dem Urvater der Vampire, Dracula selbst zu verdanken. Weil es in seinem ersten Leben als Vald Draculea zu seinen größten Vergnügen gehörte (und nicht nur die) auf hölzerne Pfähle unterschiedlichster Längen aufzuspießen [vgl. Ralf-Peter Märtin, S. 100ff.] (deshalb der Beiname Ţepeş, der Pfähler), dreht die Medizin (mit angrenzender Parawissenschaft bzw. Aberglaube) den sprichwörtlichen Spieß um und bohrt in jedem Nachkomme Draculas, den sie antreffen kann, zwar nicht wie der Woiwode in die Eingeweide, aber ins Herz, was den Vampir zunächst schäumen macht und dann zu Staub zerfallen lässt, wenn er schon alt genug ist (Lucy offenbar noch nicht, S. 314f.). So treffen einen die eigenen Schandtaten doch schließlich immer selber, wenn auch erst in späteren Leben, womöglich sogar als Vampir (obwohl die Pfählung Dracula erspart bleiben wird, er zerfällt vorher zu Staub, was so manchen veranlasst zu glauben, dass der Graf noch immer sein Unwesen treibt [vgl. Friedrich A. Kittler 1982, S. 130f.]!). Nach der Pfählung erhält Van Helsing ein Telegramm von Mina Harker, die ihr Kommen ankündigt (S. 317). Ihr Mann folgt am Tag darauf, Mina macht sich daran,
„(...) und jedes kleinste Stückchen Beweismaterial, (...) chronologisch (zu) ordnen.“ (S. 327)
und auf ihrer Schreibmaschine abzuschreiben. Harker versucht währenddessen, den Spuren der Särge des Grafen zu folgen und wird so das einzige Telefonat des Romans provozieren (s.o.). Dabei macht er die Erfahrung einer neuen Art von Kommunikation, nämlich in direktem Zusammenhang mit Geldmünzen, er gibt den verschiedenen Lagerarbeitern Geld und sie ihm dafür im Tausch Informationen (z.B. S. 379, S. 381). Mina hat inzwischen von allen Unterlagen drei Durchschläge gemacht und so sorgfältig gearbeitet, dass Dr. Seward in sein Tagebuch schreibt/spricht:
„Alle Aufzeichnungen sind also bis zu dieser Stunde vollständig und geordnet.“ (S. 342)
Das stimmt leider so nicht, wie der aufmerksame Leser feststellen muss, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen fehlen und werden nicht mehr auftauchen.
Am 30. September sitzen alle beisammen (bis auf das Andere, Abwesende, hier repräsentiert durch den Grafen) und Professor Van Helsing erzählt von Vampiren und der Übertragung des Wissens darüber:
„(...) so sind doch die Berichte und Schriften der Vergangenheit für alle vernünftigen Menschen Beweiskraft genug.“ (S. 343)
Und erneut:
„Das einzige, worauf wir uns stützen können, sind Überlieferung und Aberglaube.“ (S. 346)
Ergo, der Nachrichtenaustausch mit der Vergangenheit funktioniert (endlich einmal, denn für gewöhnlich gibt man auf Aberglaube und Überlieferung, und sei es schriftlich, nicht viel). Man erfährt, dass der Vampir nur auf Antrag bzw. Anfrage hin ein Haus betreten darf, ist er einmal geladen, so darf er nach Belieben kommen und gehen (S. 348).
(Nur wenn man der Post seine Adresse gibt, kann diese zu einem gelangen, ist dieses jedoch einmal geschehen, so wird es kein Zurück mehr geben, gnadenlos werden Nachrichten eingeworfen. Hängt man einmal am Netz des Postkurses, ist alles Klagen umsonst.)
Bevor sich die Mannen um Van Helsing in das Gebäude in Carfax begeben, um Kisten zu zählen, stattet er sie mit diversen Waffen zur Abwehr aus. Die wichtigste und gefährlichste aller Waffen befindet sich in einem Briefumschlag, es ist eine Hostie (S. 362), der „Leib Christi“ als Botschaft in einem Umschlag gegen Vampire! Vielleicht wird hier der missionarische Auftrag etwas zu eng gedeutet.
Jetzt, d.h. am 1. Oktober, träumt auch Mina von roten Augen (S. 375). Jonathan sucht die übrigen Särge. Um an die Adresse eines Informanten zu gelangen, muss Jonathan Harker Joseph Smollet einen SAE hinterlassen (also einen selbst adressierten, frankierten Briefumschlag), die Unterschicht verfügt offensichtlich nicht über das nötige Material zur Nachrichtenübermittlung (S. 379). Am 2. Oktober dann kehrt der eigene Brief zurück zu Jonathan Harker, jedoch mit einem schmutzigen Zettel als Inhalt, auf dem die gewünschte Adresse steht.
Nachdem ein Geisteskranker geopfert wird offenbart sich, was jeder bereits ahnte: Dracula hat auch Mina Harker angezapft und wird von den Herren in flagranti erwischt. Der Graf zwingt Mina, während der geliebte Ehemann friedlich im Bett neben ihr schlummert und nichts ahnt von den Hörnern auf seinem Kopf, von seiner Brust Blut zu trinken (S. 407). Der Briefumschlag (mit der Hostie) tritt in Aktion und verjagt den Grafen. Geschehen ist aber dennoch, dass nun „ihrer aller Herzensfrau“ [vgl. Friedrich A. Kittler 1982, S. 126] auch Draculas Herzensfrau, allerdings in einem wörtlicheren Sinne geworden ist.
Bevor Dracula flieht kann er noch alle Manuskripte sowie die Wachszylinder von Dr. Sewards Phonographentagebuch (getreu dem Motto: Macht kaputt, was Euch kaputtmacht!) verbrennen. Gott sei’s gelobt, für die Existenz des Romans hat Dr. Seward vorgesorgt und eine Abschrift von allem (der Roman als Loseblattsammlung) im Safe verschlossen (S. 412).
Die geküsste Mina wird wieder ins Vertrauen gezogen, was ihr vorher, ungeküsst, verwehrt war, und mit dem Protokollieren aller Gespräche beauftragt (S. 419f.).
Durch ein Missgeschick wird Mina erneut „gestempelt“, diesmal von Van Helsing mit seiner Wunderwaffe, der Hostie. Als er sie ihr auf die Stirn legt, brennt sie ein rundes rotes Mal auf die Stirn von Mina Harker (S. 427). Somit, quasi doppelt frankiert, wird Mina zur Warensendung mit Rückfahrkarte ins Reich der Untoten. Für sie besteht also noch Hoffnung (postalisch gesehen).
Die Männer gehen daran, die Kisten des Grafen zu entschärfen bzw. zu sterilisieren. In einem Haus am Piccadilly entdecken sie auch die Schreibutensilien des Grafen (somit ist dieses Haus als Hauptquartier enttarnt, der Graf unter postalischen Standards gestorben – wäre er nicht bereits tot!). Während die Herren auf Dracula warten, erscheint ein Eilbote mit einem Telegramm von Mina. Eilboten benutzen zur Erkennung bestimmte Codes, sie klopfen nämlich immer zweimal, also werden sie eingelassen ohne Sorge (S. 437).
Weil Dracula seine Felle in England respektive London schwimmen sieht, lässt er sich selber in seiner Lieblingskiste (weil letzte Kiste) schwimmen, und gen Heimat.
Dank Minas gutem Draht zu Dracula kann sie sich von Van Helsing anzapfen lassen (per Hypnose) und den Gefährten so die nötigen Informationen geben (S. 447-450). Dank Mina und der Lloyd’s Agentur schließlich, die alle Schiffe der Welt registriert hält, weiß man um den Weg des Grafen. Mithilfe der Geld-Information-Kommunikation, wie sie mit Angehörigen der niederen Stände angewendet wird, erfährt man allerletzte Details (S. 455f.).
Über Mina und ihre Integrität bzw. Verschwiegenheit gegenüber dem Grafen macht man sich wegen der „Bluttaufe des Vampirs“ (S. 462) anfangs noch Sorgen, weiht sie später aber doch wieder in alle Geheimnisse ein (die sie schließlich direkt betreffen).
Man macht sich auf die Reise, um den Grafen in Varna zu erwarten (er muss nämlich auf dem Schiff bleiben angeborener Wasserscheue von Fledermäusen). Lord Godalming gibt vorher in London den Auftrag, ihm täglich ein Telegramm mit Informationen bezüglich des Schiffes (bzw. den Standort) zu übersenden. So warten die Gesellen im Hotel „Odysseus“ (nomen est omen) in Varna und nehmen täglich ein Telegramm mit gleichlautendem Inhalt in Empfang, nämlich dass das Schiff noch nicht gemeldet sei (S. 477-482). Zusätzlich dazu, und das erinnert fast an eine moderne Großfahndung, wird noch ein zweites Hilfsmittel als Radar-Echolot eingesetzt, nämlich Mina Harker in Hypnose, die live vom Aufenthaltsort des Feindes berichten kann (unweigerlich denkt man an CNN).
Das Schiff und damit der Graf gelangen jedoch an einen anderen Hafen, nach Galatz (Dracula hat die Verbindung Mina Harker-Dracula in umgekehrter Richtung in Anspruch genommen und deshalb Auskunft über Minas Aufenthaltsort erhalten (S. 485)). Weil Mina Harker alle Zugpläne auswendig weiß, ist man schnell auf dem Weg dorthin, aber natürlich zu spät. Nach erneuter Informationsbeschaffung beim Fußvolk, was mittlerweile zur Routine verkommt, teilt man sich und macht sich auf den Weg hinter dem Grafen her, der sich einen Fluss entlang fahren lässt. Van Helsing, der mit Mina Harker per Kutsche direkt zum Schloss Dracula fährt, bemerkt Minas Veränderung:
„Auch in ihr kleines Tagebuch hat sie nichts mehr eingetragen, obwohl sie sonst alles getreulich niederschrieb. Ich hege die Befürchtung, dass mit ihr etwas nicht stimmt.“ (S. 518)
Doch nach dem großen Showdown ist Mina Harker geheilt, der rote Punkt auf der Stirn, der ihr vormals von rumänischen Gastwirten Extraportionen Knoblauch im Essen bescherte (S. 516), ist verschwunden.
Am Schluss bleibt Jonathan Harker die Erkenntnis,
„(...) dass sich in all der Masse von Material, aus dem sich dieser Bericht zusammensetzt, kaum ein einziges authentisches Dokument befindet.“ (S. 541)
Was bleibt ist also nichts, außer dem Roman.

... und verbleibe mit Grüßen Ihr Freund Dracula

Dass Graf Dracula mit Briefpost durchaus geschickt umzugehen weiß, daran besteht kein Zweifel. Bereits die dritte Seite des Romans gibt darüber Auskunft. Auch die illegalen Möglichkeiten, die der Briefverkehr mit sich bringt, sind dem Grafen mehr als geläufig. Befände man sich im 17. Jahrhundert, so könnte man den Grafen durchaus in den Stand eines Nachrichtenoffiziers erheben. Deren Aufgabe nämlich war es, Postlinien zu stören und wichtige Briefe abzufangen, und genau so ist in der Umgebung von Dracula kein geregelter Brief-/ Nachrichtenverkehr möglich. Diese Tatsache ist das Charakteristische an der Figur des Grafen, denn distinktives Merkmal von Vampiren ist das
„Aussaugen von Blut bei lebenden Warmblütern“ [vgl. Das Große Duden-Lexikon. Bd. 8, S. 319].
Und Blut, so weiß man,
„(...) heißt diejenige Flüssigkeit des menschlichen und tierischen Körpers, welche den stofflichen Verkehr der einzelnen Körperbestandteile mit der Außenwelt und untereinander vermittelt“ [vgl. Brockhaus Konversations-Lexikon. Bd. 3, S. 157].
Lebensaufgabe eines jeden Vampirs, und ganz besonders des romanesken Urvaters aller Vampire, ist also das Anzapfen fremder Übertragungssysteme. So fällt es Dracula nicht schwer, diese Tatsache, die ihm wörtlich in Fleisch und Blut übergegangen ist, auch auf unser aller Nachrichtenübermittlungssystem, die Post, anzuwenden.
Problematisch wird es für den hämophilen Adel (der trotz entsprechender Blässe nie zur Hämophilie neigen wird, aus Mangel eben an jenem Saft, wo nichts ist, da kann nichts fließen, und wenn der Magen noch so voll ist), der überdies auch mit den Wölfen heulen und kommunizieren kann (S. 41 und S. 81), erst dann, wenn der Nachrichtenverkehr so gebündelt und mit modernen Neuerungen gekoppelt wird, wie im vorliegenden Fall. Einundvierzig Briefe und siebenundzwanzig Telegramme werden aufgebracht, um den Grafen schließlich und endlich zur Strecke zu bringen. Dabei gehört die telegraphische Datenübermittlung offensichtlich nicht zu Draculas Repertoire, denn weder vermag er das Telegramm für sich auch nur einmal zu nutzen, noch scheint er von den Möglichkeiten der Telegraphie eine Ahnung zu haben, ansonsten hätte er vermutlich einen anderen Weg als den Seeweg zur Flucht aus London benutzt. So aber, dank Lloyd’s und den Segnungen der telegraphischen Übertragung sind die Gegner Draculas immer in der Lage, seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort bei der Flucht durch die verschiedenen Meere bzw. seinen genauen Landehafen auszumachen. Damit hat er nicht gerechnet, und der Graf lernt langsam (wie Professor Van Helsing mehrfach erläutert, so auf S. 435).
Das Telephon wiederum scheint unseren Helden noch nicht sonderlich geläufig zu sein, denn sonst hätten sie sicherlich auch dieses Hilfsmittel zu nutzen gewusst bei der Mobilmachung gegen den Vampir.
Die genannte große Menge an Briefen und Telegrammen, die einerseits dem Grafen zum Verhängnis wird, sind andererseits (zusammen mit vier Zeitungsausschnitten, drei Zetteln und fünf Tagebüchern) laut Ralf-Peter Märtin [vgl. Ralf-Peter Märtin, S. 168] für den großen Erfolg des Romans verantwortlich.
Die Authentizität der Aufzeichnungen wird allerdings von Jonathan Harker selbst am Ende des Romans infrage gestellt, da
„Außer den letzten Notizen von Mina, Seward und mir sowie Van Helsings Aufzeichnungen (...) alles andere mit Schreibmaschine getippt“ (S. 541)
ist. Der Leser des Romans dagegen hat noch nicht einmal diese letzten handschriftlichen Aufzeichnungen vorliegen, sondern einzig ein von vorn bis hinten gedrucktes Buch. Aufgrund der gesteigerten Lesbarkeit (wie Mina Harker feststellte,
„so dass die Aufzeichnungen auch von anderen gelesen werden können.“ S. 261),
sowie, damit die Aufzeichnungen in das Massenmedium Roman übergehen und so die Datenübermittlung einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden kann, ist eine Aufgabe von Authentizität durch Drucktechnik wohl unumgänglich. Dem Leser bleibt einzig die Illusion der Fiktion.

Postskriptum

Will man vorzeitliche Tyrannen mit Lust beim Anzapfen fremder Quellen bekämpfen, womöglich sogar ausschalten, so muss man vereint, mit allen (daten-) technischen Mitteln ausgerüstet, dabei vor allem auf modernste Entwicklungen bauend, zunächst die feindliche Nachrichtenübermittlung ausschalten, gleichzeitig damit den eigenen Datenaustausch immens steigern und schließlich den Gegner offensiv zurücktreiben in seinen Unterschlupf, wo man ihm endgültig den Garaus macht.
Und so haben die gebündelten Briefe und Tagebuchnotizen des Romans endlich den Empfänger gefunden, der ihnen die von der Sekretärin Mina Harker genommene Authentizität wieder zurückgibt. 46 Jahre hat die US Army gebraucht, bis die Taktik verstand, die ihnen mit den kostenlosen Exemplaren des Romans im Zweiten Weltkrieg mitgeteilt wurde [vgl. Friedrich A. Kittler 1982, S. 133]. Was 1890 mit Graf Dracula geklappt hat, funktioniert genau so im Jahre 1991, was nach Waffenstillstand einen der Soldaten auch sagen lässt:
„Wir hätten bis Bagdad durchmarschieren sollen“ [ Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 01.03.1991, S. 5 (Bericht und Hintergrund)]
denn Van Helsing ist doch schließlich ebenfalls bis ins Schloss des Grafen Dracula gegangen!
Jubel nach gewonnener Schlacht gebührt also nicht dem großen Strategen Norman Schwarzkopf, sondern zwangsläufig dem wahren Mastermind des gerade vergangenen Krieges, Professor Abraham Van Helsing.
Entscheidende Differenz außer der zeitlichen bleibt die Substitution des alles verursachenden Saftes. Schriebe Stoker seinen Roman heute, vielleicht würden des Grafen Augen schwarz schimmern.

LITERATUR

- Brockhaus Konversationslexikon. 14. Auflage. Leipzig, Berlin und Wien: Brockhaus 1892
- Das Große Duden-Lexikon. 2. Auflage. Mannheim, Wien und Zürich: Bibliographisches Institut 1969
- Adolph Friedlaender. Die Verletzung des Briefgeheimnisses. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. 16. Band. Berlin: Guttentag 1896
- Friedrich A. Kittler: Draculas Vermächtnis. In: ZETA 02 Mit Lacan. Hrsg. Dieter Hombach. Berlin: 1982, S. 103-136
- Friedrich A. Kittler: Grammophon-Film-Typewriter. Berlin: Brinkmann&Bose 1986
- Ralf-Peter Märtin: Dracula. Das Leben des Fürsten Vlad Tepes. Frankfurt am Main: Fischer 1991
- Bram Stoker: Dracula. Frankfurt am Main: Insel 1988. Text folgt der Ausgabe in der Übersetzung von Karl Bruno Leder. Genf und Hamburg: Kossodo 1968
- Westdeutsche Allgemeine – Westfälische Allgemeine Zeitung. Hrsg. Erich Brost und Jakob Funke. Nr. 51. Essen: Westfalen 1991

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